Astrid Meyerfeldt Foto: Mirbach

John von Düffel macht aus antikem Stoff ein Stück über den Untergang einer Familie in Zeiten des Krieges. Unschuldig bleibt in solch einer rachelüsternen Gesellschaft kaum jemand, sagt Stephan Kimmig am Samstag in seiner dreistündigen Inszenierung am Staatsschauspiel Stuttgart.

Stuttgart – Ein steil in den Bühnenhimmel ragender Mast mit einem mächtigen Tau im Zentrum eines Atriums, das auch ein Schiffsdeck sein könnte oder eine der zahlreichen Baustellen in der Stadt. Der verschrappte Boden lässt schwer erkennen, ob es Beton ist oder Holz, womöglich sind es auch die auseinander gefallenen Planken des Trojanischen Pferdes. Katja Haß hat dem Regisseur Stephan Kimmig für „Orest. Elektra. Frauen von Troja“ am Samstag im Schauspielhaus Stuttgart eine viele Interpretationen bietende Bühne zum Schwindeligschauen gebaut.

Die Spielfläche ist schief aufgestellt. Hier findet keiner rechten Halt. Wie auch? Die Welt ist aus den Fugen. Doch auch wenn die Bühne Bewegung suggeriert, regiert der absolute Stillstand. Kein Meerestosen, kein debattierendes Volk, nirgends. Die Schlacht ist geschlagen, die Griechen haben die Troer besiegt. Hier wird nur noch Leid verhandelt. Trauer und Wut, Zorn und Hass. Das einzige, was sich bewegt und an das Flüstern eines aufkommenden Windes erinnert, ist die Schleppe des Kleides der Troerin Hekabe (Astrid Meyerfeldt). Die Bühne wird zum Ort der Klage, der Anklage, der Rache.

Am Ende des Trojanischen Kriegs

Der Autor und Dramaturg John von Düffel, der schon jüngere Familiendramen der Weltliteratur wie Thomas Manns „Buddenbrooks“, für die Bühne bearbeitete, hat sich einen antiken mordlüsternen Clan vorgenommen. Werke von Euripides, Sophokles und Aischylos schnurrt er zu einem Drama über den Untergang einer Familie in Zeiten des Terrors zusammen. Es setzt ein mit dem Ende des Trojanischen Krieges. Kassandra (Svenja Liesau) weissagt als epileptisch zappelnde, keckernde, die Worte herauswürgende Seherin ihren eigenen Tod, das Schicksal ihrer Mutter Hekabe und die Ermordung des Griechen Agamemnon. Zur Erinnerung: Paris hatte die schöne Griechin Helena entführt, die allerdings mit Menelaos verheiratet war, woraufhin die Griechen in den Krieg zogen.

Im zweiten Teil des Dramas dann die Geschichte von Menelaos’ Bruder: Agamemnon, Anführer des Griechenheeres, hatte als Göttergabe Tochter Iphigenie geopfert. Nach seiner siegreichen Heimkehr bringt dessen Ehefrau Klytemnestra ihn aber genau deshalb um und tut sich mit Aigisthos zusammen. Klytemnestras Rachemord wird von ihren Kindern Elektra und Orest nicht goutiert, sie schmieden ihrerseits Rachepläne. „Die Toten töten die Lebenden“ - davon handelt der dritte Teil.

Das ganze Terrorprogramm

Stephan Kimmig hat vor Jahren schon „Thyestes“ in Stuttgart inszeniert und sozusagen die Vorgeschichte dieses Abends erzählt, denn Thyestes ist der Vater von Aigisthos. Nun also, was danach geschah und leider immer noch topaktuell ist: Familienzwist, Entfremdung, Krieg, Vertreibung, Grausamkeit, das ganze Terrorprogramm. Anspielungen an das Hier und Heute zeigen sich in den Kostümen von Kathrin Plath. Klytemnestra sowie ihre Töchter Elektra und Chrysothemis tragen Kleider in Gelb, Rot und Schwarz und bilden so eine Art Deutschlandfahne. Orest brüllt, für „Rrrecht und Orrrdnung“ einzustehen und kommt in Bomberjacke und blonder Strupphaar-Perücke wie ein Nazi daher - oder wie ein Kukluxclan-Anhänger im überlangem Kapuzenpulli. Einige gutmeinende, allzu schlichte Botschaften mag Kimmig sich aber nicht verkneifen, wenn er Orests Cousine, Helenas Tochter Hermione (Svenja Liesau) sagen lässt, nicht das Töten, sondern „sein Glück zu suchen, das bedeutet leben“, bevor ihr beim Waterboarding der Kopf in einen Wassereimer getaucht wird.

Seit Jahrzehnten psychologische Tiefen auslotend und gerne Frauenschicksale ins Zentrum stellend, konzentriert Kimmig sich auch hier auf den Opferdiskurs. Er besetzt alle Rollen mit Frauen. Die Gesellschaft ist vaterlos: Troerinnen werden Sklavinnen der Sieger, Klytemnestras Kinder müssen ohne Vater klarkommen. Trotz der Abwesenheit der Männer akzeptieren sie deren Macho-Werte. Klytemnestras neuer Gatte Aigisthos (Birgit Unterweger) wird als weibisch geschmäht, weil er sich die Krone durch Beischlaf geholt habe. Die Mutterhassende rasende Elektra (Anja Schneider) ist körperlich verkrampft und bucklig vor lauter Weltekel und vor Machtgier, „ruhmreich wieder einzuziehen“ in das Haus des ermordeten Vaters. Doch bringt sie es nicht fertig, selbst den Vater zu rächen. Bruder Orest soll es richten. Sandra Gerling interpretiert ihn als überforderten, daher überreagierenden, neurotisch zappelnden Jungen.

Eine Besiegte als Gattenmörderin

Ihre Frau steht nur sie: Klytemnestra. Überragend an diesem dreistündigen Abend ist Astrid Meyerfeldt. Ob sie als besiegte Troerin und später als Gattenmörderin Klytemnestra ihr Schicksal analysiert, Götter anruft, das Volk beschwört, Selbstgespräche führt, ihre Kinder anherrscht, weint und befielt, sich vor Rache ängstigt, wirkt sie doch immer wie eine Frau, die genau die Machtstrukturen erkennt, Distanz und Selbstironie entwickelt - und handelt. Mit großem Selbstbewusstsein steht sie da in ihrem roten Kleid und den Gummistiefeln, freut sich, wie „mei-ster-lich!“ ihr der Gattenmord gelungen ist. Eine Killerin und Herrscherin; eine liebende und hassende Mutter; eine Irre. Grandios ist sie in ihrem ambivalenten Spiel. Als sie vom scheinbaren Tod des Sohnes Orest erfährt, huscht da ein erleichtertes Lächeln über ihr Gesicht - oder ist es schmerzliche Überraschung? Alles ist möglich. Denn abgründig, unfassbar ist der Mensch, sagt Stephan Kimmig. Neu ist die Erkenntnis nicht, aber in ihrer wütenden Wucht eindrucksvoll präsentiert.

Weitere Aufführungen: 24., 26. Februar, 6., 15. ,29 März, 1., 7., 15. April. Kartentelefon: 07 11 /202090