Der Täter wird in „Bis zum Äußersten“ selbst zum Opfer. Foto: Petra Mostbacher-Dix

Stuttgarts kleinstes Theater bringt anlässlich seines 40-jährigen Bestehens Mastrosimones Thriller „Bis zum Äußersten“ auf die Bühne. Die Hauptdarstellerin wird von einem Stalker überfallen, dann dreht sie den Spieß einfach um und macht den Täter selbst zum Opfer.

S-Süd - Ruf’ doch die Bullen. Du kannst nichts beweisen! Mein Anwalt ist der beste – Palmieri!“ Angst, aber auch eine Prise Triumph klingen in den Worten, die Raul aus vollem Halse röhrt. Eben noch hat er versucht, Marjorie zu vergewaltigen, hat sie beschimpft, gequält und gezwungen, ihn „da unten“ anzufassen. Plötzlich liegt er gefesselt mit dem Kopf im Kamin, die verätzten Augen verbunden: Sein Opfer konnte ihm während des Handgemenges Insektengift ins Gesicht sprühen. Nun schlägt ihn Marjorie mit seinem Gürtel und sinniert, wie sie ihn töten und loswerden könnte.

Frau überwältigt Einbrecher

„Extremities“ nannte William Mastrosimone sein Stück, über eine Frau, die in einem Landhaus vor den Toren New Yorks überfallen, sexuell gedemütigt und fast erstickt wird, aber den Einbrecher überwältigt und den Spieß umdreht. Am Dreigroschentheater im Stuttgarter Süden wird es derzeit unter seinem deutschen Titel „Bis zum Äußersten“ gespielt, inszeniert von Helmut Ottomar Herzfeld. Der Psychothriller von Mastrosimone, einer der wichtigsten und meistgespielten zeitgenössischen Autoren der USA, ist Teil des Jubiläumsprogramms des kleinsten Theaters in Stuttgart: Theaterdirektor Herzfeld gründete das Dreigroschentheater vor 40 Jahren. Es habe ein offenes Ensemble, in dem „jeder talentierte Theaterliebhaber mitmachen kann“, beschreibt er. Dort spielen Amateure und Laien genauso wie ausgebildete Schauspieler in Klassikern der Moderne, aber des Kriminaltheaters.

In letzteres mag man „Bis zum Äußersten“ einreihen. Im Jahr 1982 am Off-Broadway mit dem Filmstar Susan Sarandon uraufgeführt, wurde „Extremities“ weltweit bekannt, als es vier Jahre später mit James Russo und Farrah Fawcett verfilmt wurde und Diskussionen über Selbstjustiz auslöste.

Was ist eigentlich Moral? Und was ist Wahrheit?

Auch im Dreigroschentheater sind moralische Fragen im Fokus, etwa was ein Opfer mit dem Täter tun darf, vor allem, wenn sein Körper keine Spuren einer Vergewaltigung trägt. Und so sind die von der Arbeit heimkehrenden Mitbewohnerinnen Terry und Patricia (Josephin Nestler und Ulrike Wolf) hin- und hergerissen. Marjorie – überzeugend gespielt von Marina Fust – macht jeden Mann an. Sollen sie ihr also glauben, dass Raul alle wochenlang ausspionierte, ihre Post klaute und vergewaltigen wollte? Darf das Opfer den Täter verletzen? Und: wie lange dauert es, bis das Opfer so gefühllos wird wie der Täter? „Sind zwei Augen nicht genug?“, fragt etwa Sozialarbeiterin Pat, die gegen Marjories Willen Raul zu essen und trinken gibt. Und Terry gesteht, dass sie schon vergewaltigt wurde. „Du weißt nicht, wie das ist“, wirft sie Marjorie vor. Diese unterschwelligen Feindseligkeiten weiß Raul (Christian Faatz) auszunutzen. Er bringt die Frauen zum Seelenstrip, indem er etwa behauptet, Marjorie habe ein Verhältnis mit Terrys Freund.

Mancher dieser Dialoge könnten besser fließen. Indes wirken die raffinierten Psycho-Machtspiele und Manipulationen in der Wohnzimmeratmosphäre des Dreigroschentheaters intensiv. Sind doch die Zuschauer, das Theater hat gerade mal 50 Plätze, fast hautnah an der Bühne. Wie aktuell der Inhalt von „Extremities“ noch heute ist, das zeigt eine Petition der Frauenrechtlerinnen von Terre de femmes. In „Vergewaltigung – Schluss mit der Straflosigkeit!“ fordern sie Justizminister Heiko Maas auf, bei der aktuellen Reform des Sexualstrafrechtes alle internationalen Vereinbarungen umzusetzen. Nach wie vor liege im derzeitigen Rechtssinn keine Vergewaltigung vor, wenn der Täter keine Gewalt anwende, der Frau nicht mit „gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ drohe. „Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird nach wie vor nicht bedingungslos geschützt“, so die Menschenrechtlerinnen, „sondern hängt vielmehr davon ab, ob die Betroffene aktiven Widerstand leistet.“