Andrea Ernsting mit ihrer Riesen-Bubenschar: Mohammad (Mitte), einem jungen Afghanen (links) und ihren beiden eigenen Söhnen. Foto: Hastreiter

Ein Bürgerprojekt aus Konstanz setzt auf die Integration per Familienanschluss – und hat Erfolg. Besonders für die kritisch beäugte Gruppe junger alleinstehender Männer könnte dies ein guter Weg in die deutsche Gesellschaft sein.

Konstanz - Das Bett ist säuberlich gemacht, der Schreibtisch aufgeräumt. An der sonst kahlen Wand hängen Schnappschüsse von Kumpels. Gerade kommt Mohammad al Hassan von der Baustelle. Jetzt ist Mittagspause. Danach radelt er zum Deutschkurs, wo der 21-jährige Syrer die nächsten fünf Stunden verbringt. So geht das, seit er vor einem Jahr bei den Ernstings eingezogen ist. Zuvor schlief Mohammad in einer Schulturnhalle mit 200 anderen, sprach kein Wort Deutsch und befand sich an einem Tiefpunkt. Jetzt wohnt er in einem Jugendzimmer mit Familienanschluss und kichert, weil ihn seine Zimmerwirtin Andrea Ernsting als „sehr höflichen jungen Mann“ vorstellt. „Lach doch nicht so“, sagt die 56-Jährige. Da muss er noch mehr lachen.

Konstanz ist eine Universitätsstadt mit 15 000 Studenten. Wohnraum ist knapp. Der Oberbürgermeister kann ein Lied davon singen. „Wir sind begrenzt von der Schweiz, vom See, vom Naturschutzgebiet“, beschreibt Uli Burchardt (CDU) eines seiner wichtigsten kommunalpolitischen Probleme. Und doch gibt es freie Kapazitäten. Zimmer, Souterrainwohnungen, Dachkammern, die bei vielen Konstanzern leer stehen, weil der eigene Nachwuchs flügge geworden ist.

Der Filmemacher will etwas tun

Um diese verborgenen Kapazitäten zu heben, brauchte es einen Mann wie Till Hastreiter. Der 47-jährige Filmemacher – schwarzes Hemd, Baseballcap und Drei-Wochen-Bart – sah im Krisenjahr 2015 die Flüchtlinge nach Deutschland strömen und dachte sich: „Da muss jemand etwas tun.“ Bis ihm klar wurde, dass dieser Jemand eigentlich auch er selber sein könnte.

Ein Kreativer wie er denkt zuerst an eine Kunstaktion. Ideen gab es viele, als er mit seinen Mitstreitern Nicole Dillschnitter und Andreas Bechtold – die eine Soziologin, der andere Professor an der Hochschule für Technik Wirtschaft und Gestaltung – zum ersten Mal zusammensaß. „Wir lassen 1000 Schwimmwesten den Rhein runter treiben“, schlug einer vor. Doch dann wurde ihnen klar:. „Das gibt großartige Bilder. Wir finden uns toll. Aber die Leute hocken immer noch in der Turnhalle.“ Und so kam ihnen die Idee mit der Untervermietung. Es muss doch gelingen, wenigstens jeden tausendsten Konstanzer dazu zu bringen, Wohnraum für geflüchtete Menschen bereit zu stellen.

Die Renaissance des Zimmerherrn

Bis zur Wirtschaftswunderzeit war es normal gewesen, einen Zimmerherren zu beherbergen. Aber heute? „Wir wussten, dass wir einige Überzeugungsarbeit leisten müssen, um unser Ziel zu erreichen“, sagt Hastreiter. Im Anbetracht von 83 000 Einwohnern lag die Marke bei 83 Unterkünften. In der Stadt war die Zahl bald allgegenwärtig. Als Lichtinstallation leuchtete sie vom Gemäuer des Münsters, blinkte an der Glasfassade des Bodenseeforums, grüßte vom Minarett der Moschee. Der Anfang des Maklergeschäfts war dennoch schleppend. „Es brauchte lange Gespräche“, es wurde vermittelt und ermutigt. „Wir haben uns sehr gut überlegt, wer zusammenpasst“, sagt Hastreiter. „Wir schauten nach ähnlichen Berufen oder Hobbys. Es wurden Treffen arrangiert. Die Sympathie sollte entscheiden.“ Die Erfolgsquote ist ansehnlich. Nur einmal passte es nicht. „Der eine wollte alles schenken und erwartete Dankbarkeit, der andere tat sich schwer anzunehmen.“ Doch das Ziel von 83 Vermittlungen ist erreicht. „Für viele hat sich das Leben zum Besseren gewendet.“

Sensationelle Erfolgsquote

Auch außerhalb von Konstanz ist man auf das Projekt aufmerksam geworden. In Berlin gab es den Deutschen Bürgerpreis. In Stuttgart überlegt die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung, Gisela Erler (Grüne), wie das Projekt auf andere Städte ausgedehnt werden kann. „Vor allem auch für die Eingliederung junger alleinstehender Männer, deren Integration uns sehr am Herzen liegt,“ funktioniere das Konstanzer Modell, sagt Erler.

„Jetzt goht’s witer“

Bei den Ernstings ist inzwischen noch ein 15-jähriger Afghane eingezogen. Mohammad habe einen guten Einfluss, sagt Andrea Ernsting. Von ihm habe der Kleine gelernt, dass man den Unterricht nicht einfach für das Mittagsgebet abkürze. Aber auch ihre eigenen Söhne nähmen sich an der Zielstrebigkeit des 21-Jährigen ein Beispiel. Im Sommer schließt Mohammad seinen Sprachkurs ab. Im September beginnt seine Ausbildung zum Stuckateur. „Ich will mir hier eine Zukunft aufbauen“, sagt er.

Das gemeinsame Wohnen habe sich als „massiver Integrationsbeschleuniger erwiesen“, sagt Nicole Dillschnitter. Die Teilnehmer sprächen besser Deutsch und machten die nächsten Schritte in Ausbildung, Schule und Beruf. „Witer goht’s“, hat Hastreiter in bestem See-Alemannisch als neues Motto ausgegeben. Das freut auch den OB, dessen Gemeinderat dem Projekt inzwischen eine Personalstelle finanziert. In Anbetracht von mittlerweile 85 000 Einwohnern liege die Latte ohnehin höher.