Annette Jickeli und Maximilian Kraft befüllen die Lebensmittelverteilerstation wie diese hier in Degerloch Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Obst, Brot, Fleisch, Gemüse wird tonnenweise weggeworfen. Das ist 600 Stuttgartern schon aus Prinzip ein Dorn im Auge. Deshalb organisieren sie die Sammlung und Verteilung des Überflusses. Bedienen dürfen sich nicht nur Bedürftige.

Stuttgart - „Der Fairteiler ist wieder voll: Biobrot, Bio-Orangen, Gemüse und Salat, Brötchen, Brezeln und Croissants. Super Auswahl!“ schreibt Steffi am 25. Januar auf der Homepage von Foodsharing. Der weitere Verlauf der digitalen Unterhaltung zeigt auch, dass die Regale ruck, zuck wieder leer waren. So leer wie neulich beim Besuch in Degerloch: blitzblanke Kühlschrankfächer, Brotboxen ohne einen Krümel, Gemüsekisten ohne ein Blatt. Erst die Salatköpfe, der Brokkoli, der Fenchel und die Lauchzwiebeln aus Annette Jickelis Korb bringen Farbe in den Schuppen.

Das Nebengebäude im Ortskern von Degerloch ist eine Verteilerstation für überschüssige Lebensmittel. Es ist die Fortschreibung des sogenannten Containerns, bei dem gelenkige Menschen brauchbare Waren aus den Abfallcontainern der Supermärkte fischen. „Mein Sohn, damals 24, hat containert und uns angesteckt“, sagt Annette Jickeli. Dadurch sei ihr vor Augen geführt worden, wie viel Essbares tagtäglich im Müll landet. „Dann entdeckte ich Foodsharing Stuttgart, ging auf die Homepage und war schnell Mitglied.“

Firmenspenden von fünf bis 50 Kilo täglich

Anfangs bot sie auf der Online-Plattform nur Kartoffeln, H-Milch oder Ähnliches zum Abgeben an. Im Jargon heißt das: einen Korb ins Netz stellen. Wer was brauchte, holte die Sachen vor ihrem Haus ab. Bis heute verteilen rund 600 Mitglieder so ihre übrigen Lebensmittel.

Darüber hinaus bestücken die Foodsharer auch sogenannte Fairteiler-Stationen an sechs Stellen in Stuttgart, wo es in der Regel mehr als Kartoffeln und H-Milch gibt, weil auch Firmen dorthin Spenden abgeben. „40 Betriebe sind zurzeit in Stuttgart aktiv, darunter die Cap-Märkte, Naturgut, Di Gennaro aus der Markthalle und Bäcker, sagt Maximilian Kraft, der seit 2014 mitarbeitet. Die gespendete Menge schwanke und bewege sich zwischen fünf und 50 Kilogramm am Tag. „Unfassbar, was da zu viel produziert wird“, sagt Jickeli. Maximilian Kraft und seine Mitstreiter sorgen dafür, dass die Waren schnell in den Verteilstationen ankommen. „Wenn sich genügend Leute in den Abholplan eintragen, beschränkt sich meine Arbeit auf wenige Stunden pro Woche“, sagt Kraft. Denn das Ingenieurstudium braucht auch Zeit.

Hüter der Fairteiler zahlen auch den Strom

Den Tafelläden, die gespendete Lebensmittel für geringes Geld an Bedürftige verkaufen, „machen wir keine Konkurrenz“, sagt der Student. Die Tafeln dürften Waren mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum nicht verkaufen, die Foodsharer hingegen handeln auf eigenes Risiko und sind somit von dieser Regelung ausgenommen. Außerdem stehen sie, anders als die Tafel, auch am Wochenende bereit, Waren beim Bäcker, Konditor oder Metzger, bei Supermärkten oder Feinkosthändlern abzuholen.

Der Schuppen in der Degerlocher Löwenstraße und die anderen Verteilstationen haben nicht nur eine größere Auswahl, sondern sie sind auch für Menschen ohne Computer und Internet zugänglich. In Degerloch kümmert sich eine Wohngemeinschaft im Haupthaus um Sauberkeit und Übersichtlichkeit, an den anderen Standorten sind es Studenten, Vereins- oder Kirchenmitglieder, die in der Nähe zu tun haben. Bisher habe dies gut funktioniert.

Den Strom für Kühlschränke zahlen die, die Raum dafür schaffen. Im Westen ist es die Heilsarmee, in Degerloch eine WG. „In Wien sind die schon viel weiter“, erzählt Jickeli, „da bezahlt die Stadt die Räume und den Strom.“ In Stuttgart war das noch kein Thema. Stattdessen arbeitet Maximilian Kraft an einem Solarmodul mit Batteriespeicher, um die Kühlschränke künftig mit regenerierbarer Energie zu betreiben.

Essensretter träumen von einem Café

Den Erfolg ihrer Arbeit messen sie an der Akzeptanz der Fairteiler: wenn, wie in Degerloch, eine Dame eine Banane und einen Salatkopf holt und erst dann zum Einkaufen in die Epplestraße geht. „Oder wenn eine Filiale mittlerweile deutlich weniger abzugeben hat, weil sie den Überschuss des Tages nun den Mitarbeitern schenkt“, sagt Jickeli und strahlt. Lebensmittel vor der Tonne retten, das ist das Ziel der Initiative. Dabei darf jeder mitmachen, ob arm oder wohlhabend, ohne dass er in Container steigen muss.

Die Gemeinschaft ist bisher vor allem übers Internet miteinander in Kontakt. Das hätte Kraft gern anders und denkt an ein Café, das gleichzeitig Fairteiler und Treffpunkt sein könnte. Raupe Immersatt soll es heißen. Die Mietpreise sind ein Hemmnis, aber Maximilian Kraft sucht hartnäckig weiter. Erst vor zwei Wochen hatte die Initiative eine große Bühne: Die Stuttgarter Bürgerstiftung zeichnete sie mit dem mit 3000 Euro dotierten Publikumspreis aus. Damit kann man viel machen, sagen Kraft und Jickeli. Mehr Öffentlichkeitsarbeit an Schulen, Kühlschränke anschaffen, Koch-Shows und vieles mehr. Es ist also mit weiteren Einträgen auf der Homepage zu rechnen: „Der Fair-Teiler ist bis oben gefüllt mit allem, was das Herz begehrt, kommt und bedient euch!“, schrieb jüngst Luisa.