Meinrad Bauer und Nathalie Bartels sind stolz auf ihren Sohn Bennet. Dessen künftiger Chef könne froh über einen solchen Mitarbeiter sein, meinen sie Foto: Waltraud Daniela Engel

Bei manchen Kinder läuft alles einfach etwas langsamer. Ein halber Tag mit Bennet, der den Förderzug der Michael-Bauer-Schule besucht. Ein Zug, der sich für soziales Miteinander und individuelle Förderung einsetzt.

Vaihingen - Die Schulglocke klingelt um acht Uhr. Das Klassenzimmer der 4a ist klein, die Schulbänke sind hölzern rustikal, die Wände gelb gestrichen. Zehn der elf Schüler von Klassenlehrerin Ingeborg Rysavy sitzen unruhig auf den Plätzen, als Bennet das Zimmer betritt. Auf der Fahrt in die Schule sei Stau gewesen, sagt der zehnjährige Blondschopf. Normalerweise fährt Bennet mit dem Rad – gemeinsam mit seinen beiden älteren Geschwistern Levin und Noa. Dann kommt er nicht zu spät.

Dass Bennet mit dem Rad fährt, ist etwas Besonderes. Nicht weil er von seinem Elternhaus, der Eselsmühle im Siebenmühlental, bis nach Vaihingen zur Michael-Bauer-Schule fahren muss, sondern weil Bennet etwas länger als seine Geschwister braucht, manche Dinge zu lernen.

Das Nicht-Sprechen machte den Unterschied

„Als Neugeborener hatte Bennet eine Atemwegsinfektion und lag zwei Wochen auf der Intensivstation“, erzählt seine Mutter Nathalie Barthels. Dass es Schädigungen am Gehirn gegeben hatte, blieb lange unbemerkt. Bennet war bei allem immer etwas später dran als sein großer Bruder und seine Schwester, sagt die 43-Jährige. Spät begann er zu krabbeln, spät zu laufen. „Aber immer noch im Rahmen“, sagt die Mutter.

Da Bennet sich immer gut selbst beschäftigen konnte, fiel es zunächst nicht auf. Wirklich Sorgen machten sich die Eltern erst, als Bennet nicht sprechen wollte. „Da war er nicht mehr im Normbereich“, sagt Meinrad Bauer, Bennets Vater. Im Kindergarten wurde ihr Sohn nicht ausreichend gefördert. Ein Wechsel in den Sprachheilkindergarten in Leinfelden brachte gute Erfolge. Dort bekam die Familie auch den Hinweis auf den A-Klassenzug der Michael-Bauer-Schule in Vaihingen – eine Klasse für Kinder mit besonderem Förderbedarf. Im ersten Aufnahmetest war Bennet zu schlecht; man riet den Eltern zu einer Sonderschule. Auf Beharren der Kindergärtnerin kam Bennet letztlich doch zur Michael-Bauer-Schule. „Seit er dort ist, hat er sich super entwickelt“, sagt der Vater Meinrad Bauer und fügt nicht ohne Stolz hinzu: „Er ist nicht der Beste in seiner Klasse, aber auch nicht der Schlechteste.“

Bennet ist sich seiner Situation bewusst. Als seine Mutter einmal die Geduld bei den Mathe-Hausaufgaben verlor, entgegnete der Zehnjährige: „Ach Mama, du weißt doch, dass ich da ein Problem habe.“

Beim Seilhüpfen das Einmaleins lernen

Im Klassenzimmer ist nach dem gemeinsamen Singen das Rechnen an der Reihe. Rechnen und lesen sind nicht Bennets Stärken; aber er kämpft sich tapfer durch. „Typisch für die Waldorfpädagogik ist das Lernen in der Bewegung“, sagt die Klassenlehrerin Ingeborg Rysavy. Deshalb lernen die Schüler das Einmaleins nicht nur auswendig: Sie hüpfen mit dem Springseil, werfen sich Bälle zu und singen die Zahlenfolgen. Zwei Klassenkameraden schwingen das Springseil und Bennet hüpft. Die Denkfalte auf der Stirn des Zehnjährigen ist unbegründet. Die Zweierreihe klappt heute problemlos. Für die Dreierreihe prellt er einen Ball. Drei, sechs, neun. Es läuft.

Über individuelle Betreuung und das soziale Miteinander

Bereits seit 40 Jahren werden an der Michael-Bauer-Schule Kinder mit Förderbedarf unterrichtet. Im Moment besuchen rund 100 Förderkinder und mehr als 600 Regelkinder die Waldorfschule. Kinder, die im Förderzug aufgenommen werden, dürfen nicht geistig behindert sein. „Sie müssen ein gewisses Maß an Lernfähigkeit mitbringen“, sagt Ingeborg Rysavy. Der Lernprozess darf langsam voran gehen, aber er darf nicht stagnieren. Bis zur neunten Klasse können sie den Förderzug besuchen, wenn sie vorher nicht in den Regelzug wechseln.

Durch kleine Klassen können die Lehrer individuell auf die Probleme der Förderschüler eingehen; zusätzliche Angebote wie Heileurythmie oder Legasthenikerförderung werden in enger Zusammenarbeit mit der Schulärztin, den Klassenlehrern und den Eltern ermöglicht. Dadurch, dass es neben dem Förderzug immer einen Regelklassenzug gibt, können die Schüler jederzeit wechseln – bei Bedarf auch mitten im Schuljahr. „Gerade für die Eltern ist es wichtig, dass einem Kind im A-Klassen-Zug trotzdem alle Wege offen stehen“, sagt Ellen Gaiser, die Sprecherin der Schule, und ergänzt: „Die Kinder dürfen hier langsam beginnen, sich Zeit lassen mit der Entwicklung.“

Verstehen ist das Wichtigste für ein soziales Miteinander

Dabei liegen für die Pädagogen die Vorteile des Inklusionskonzeptes der Schule auf der Hand. Die Förderkinder haben durch schulinterne Projekte – wie zum Beispiel den Zirkus, gemeinsame Feste und Begegnungen auf dem Schulhof, im Hort, oder der Kernzeit – ständig Kontakt zu den Regelkindern. Auch die Regelschüler lernen das soziale Miteinander. Sie erfahren, dass es Kinder gibt, die ein wenig anders sind: mal laut in der S-Bahn, wenn es eigentlich nicht angebracht scheint, oder auch mal zu leise. „Hier sind wir gefragt. Wir müssen den Kindern erklären, warum das so ist“, sagt Ingeborg Rysavy. „Der Herzschlag der Schule ist einfach ein wenig langsamer.“

Ein fleißiger Bursche, der das Herz am rechten Fleck hat

Ortswechsel: bei Bennet zu Hause – auf dem Gelände der Eselsmühle – zeigt sich, dass es neben dem Einmaleins noch mehr gibt. Bennet hat nämlich nicht nur kleine Schwächen, sondern auch große Stärken. „Bennet ist brutal fleißig“, sagt seine Mutter Nathalie Barthels stolz. Andere Kinder in seinem Alter spielen, der Zehnjährige „schafft“. Egal, wo es auf dem Hof etwas zu tun gibt, hilft Bennet. Technische Zusammenhänge begreift er schnell, gegenüber anderen zeigt er sich sozial und voll Herzenswärme und sein Orientierungssinn ist spitze. Sein künftiger Chef kann sich glücklich schätzen, sagen die Eltern.

Quasi um die Worte seiner Mutter zu bestätigen, kommt Bennet um die Ecke, den Rasenmäher im Schlepptau und meint: „Ich hab die Wiese hinterm Haus gemäht.“