Selten war in den Feuilletons und Literaturzirkeln ein Büchner-Preisträger so unumstritten wie Marcel Beyer. Foto: dpa

Am nächsten Samstag erhält Marcel Beyer den wichtigsten Literaturpreis des Landes, den Georg-Büchner-Preis. In seinen Gedichten, Romanen und Essays schafft er eine Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, von Ost und West. Ein Besuch bei dem Autor in Dresden.

Dresden - Marcel Beyer lebt im Dresdener Stadtteil Strehlen, in einer Altbauwohnung mit hohen Wänden, an denen imposante Bücher- und vor allem Schallplattenregale lehnen. Diese Sammlung enthält eindrucksvolle Schätze, Reggae- und Dub-Alben aus den frühen achtziger Jahren, israelische Sängerinnen aus den Siebzigern, das Gesamtwerk von The KLF, Prince oder Pere Ubu, Jazz und Funk, Raritäten aus allen möglichen Regionen Afrikas. Man bräuchte Jahre, um sich durch diese Soundwelten zu hören. Die Musikleidenschaft verrät etwas über die Sozialisation des diesjährigen Büchner-Preisträgers, der 1965 im baden-württembergischen Tailfingen geboren wurde, in Kiel und in Neuss aufwuchs: „Man ging los in den Plattenladen und kaufte Schallplatten“, sagt Marcel Beyer, „und man ging in den Buchladen und kaufte Merve.“ Avancierte Musik und Theorie, das waren die Grundnahrungsmittel für all jene, die in den achtziger Jahren intellektuell das Laufen lernten, mit dem Schreiben begannen und schließlich zu Schriftstellern wurden. Verfahrensweisen elektronischer Musik fanden ganz automatisch Eingang ins Denken und ins Schreiben.

Daneben gab es aber von Anfang an die Literatur, Autoren, die als Geheimtipps galten oder eher selten in akademischen Lehrplänen auftauchten: William S. Burroughs, Michel Leiris, Georges Perec, Claude Simon, Thomas Kling und einige mehr – das waren Leuchttürme für Beyer. Ganz besonders hell aber leuchteten die Bücher Friederike Mayröckers. Marcel Beyer, damals Student in Siegen, lernte die von ihm verehrte Schriftstellerin Ende der achtziger Jahre persönlich kennen. „Ich habe damals gemerkt, dass absolute Kompromisslosigkeit in Sachen der Kunst durchaus bestehen kann neben einer sehr freundlichen, offenen Hinwendung zur Welt und den Menschen. Das hat mich beeindruckt. Für mich ist das bis heute eine Sache der Lebenshaltung.“

Herz der Finsternis

Beyer legte den Grundstock für das Friederike Mayröcker-Archiv; zeitgleich begann er mit der Arbeit an seinem ersten Roman „Das Menschenfleisch“. Der Lyriker, der sich zuvor nicht vorstellen konnte, Prosa zu schreiben, wurde von den Rhythmen des Dub, der Cut-up-Methode Burroughs‘ und den sprachspielerischen Erzähltexten Mayröckers angetrieben. „Ich liebe es bis heute“, sagt Beyer, „morgens ein Buch von Friederike Mayröcker aufzumachen und den ganzen Tag nur so da durchzuschwimmen. Das ist so ein Durchpusten und ein Mutmachen.“

Der große Durchbruch kam 1995 mit „Flughunde“. Mit diesem vielbeachteten und in viele Sprachen übersetzten Roman hatte Beyer einen eigenen, kühlen Ton gefunden, mit dem er ins Herz der Finsternis der deutschen Geschichte vordringen konnte. Er verarbeitet darin medientheoretische Erkenntnisse, verknüpft die Erkundung grausamer Medizinexperimente mit dem Schicksal der Goebbels-Kinder, zeigt auf eindringliche Weise, wie als Nachgeborener Vergangenes erinnert werden kann. Auch die folgenden Romane „Spione“ oder „Kaltenburg“ setzen sich auf formal anregende Weise und aus einer ganz zeitgenössischen Perspektive mit den verschlungenen Pfaden deutscher Historie auseinander. „Wenn ich mich irgendeinem Gegenwartsphänomen nähere und es mich reizt, darüber zu arbeiten, stelle ich fest, dass ich nicht bei dieser Gegenwart bleiben kann“, sagt Beyer. „Automatisch möchte ich wissen, was dahintersteckt, welche Entwicklung das genommen hat, so dass immer ein Hallraum an Geschichte dazukommt.“ Diesen Hallraum an Geschichte spürt man auch in seinen Gedichten und Essays. Mit dem Lyrikband „Erdkunde“ etwa bewegte sich Beyer tief hinein in historische Räume und die Landschaften des Ostens, nicht zuletzt das Ergebnis seiner regen Reisetätigkeit und seines Umzugs nach Dresden Mitte der neunziger Jahre.

Mit Pegida fliegen die Trümmer durch die Luft

Dresden hat vielfältige Spuren hinterlassen in seinen Büchern. „Dresden als erzählte Stadt war seit 1945 immer eine unter bestimmten ideologischen Prämissen erzählte Stadt. Und dann musste sie nach 1990 erst so langsam zu einer neuen Erzählung finden. In diesen Prozess bin ich hineingekommen, als ich 96 hierherzog. Und dann hatte ich das Gefühl, in der Folge des großen Hochwassers 2002 und der Fertigstellung der Frauenkirche, dass die Erzählung homogen wird, dass es grunzfade ist, dass man in einem Kunstreiseführer lebt. Und nun gab es ein paar Jahre, in denen man merkte, dass es irgendwann zu knirschen anfing und auf einmal mit den Pegida-Demonstrationen knallte. Plötzlich fliegen wieder die Trümmer durch die Luft, und man weiß nicht, wohin sich diese Stadt bewegt.“ Im Moment wohl in eine eher fatale Richtung. Was sich auch im Alltag zeigt. „Seit einigen Jahren gibt es eine merkwürdige Stimmung. Bei meiner Frau, die aus der Schweiz ist, und bei mir, der ich aus Westdeutschland bin, wird wieder mehr darauf geachtet, dass wir eben nicht von hier kommen. Das spielt plötzlich wieder eine größere Rolle. Diese Frage, wo man denn her sei, kann ja etwas Einladendes haben, kann Interesse ausdrücken. Oder es soll damit eine Abgrenzung vorgenommen werden. Das ist uns schon seit 2008/2009 aufgefallen. Und seit Pegida bekommt man eben alltagsrassistische Bemerkungen zu hören. Das hat uns in der Vehemenz erschreckt. Aber dass es passieren würde, war nicht sehr verwunderlich.“

Die Verwunderung aber, das Fragwürdige, die Unabgeschlossenheit geschichtlicher Prozesse ist Teil dieses mit vielen bedeutenden Ehrungen bedachten Werks. Marcel Beyer, der in seinen Gedichten, Romanen und Essays eine flirrende Verbindung von Ost und West, von Gegenwart und Vergangenheit, von Alltagserscheinungen und großer Geschichte, Sub- und Hochkultur schafft, wird nun mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes, dem Georg-Büchner-Preis, ausgezeichnet. Es gab selten in den Feuilletons und Literaturzirkeln eine solch einhellige Zustimmung zu einem Preisträger wie zu diesem. Beyer kann auf ein imposantes Werk zurückblicken. Ein Werk, das lange nicht abgeschlossen ist und das sich aus der Neugier auf die Welt, die Menschen, die Naturwissenschaften speist, das dem Zweifeln mehr abgewinnt als Gewissheiten. „Die Frage, ob es für einen selber eine Herausforderung bleibt, ob es spannend ist, ob es einen dunklen Horizont gibt, auf den man sich zubewegt, der aber immer gleich dunkel bleibt, gleich verlockend – das ist die eine Sache beim Schreiben. Die andere ist: Man braucht Durchhaltevermögen. Man muss ja auch Zeiten durchstehen, in denen es keine Aufmerksamkeit gibt.“ Einer großen Aufmerksamkeit kann sich Marcel Beyer in diesen Tagen gewiss sein.