Manchmal rührt es ihn zu Tränen, wenn Tänzer alles geben: Louis Stiens Foto: Carlos Quezada

Louis Stiens, Halbsolist des Stuttgarter Balletts, hat als Choreograf bereits eine beachtliche Wegstrecke hinter sich gebracht. Nun zeigt er beim Ballettabend „Nachtstücke“ sein jüngstes Werk „Qi“.

Stuttgart - Viel Wasser trinken, eine Kerze anzünden, hinlegen und später vielleicht noch mit einem Freund rausgehen: Louis Stiens‘ Relaxprogramm steht. „Ziemlich fertig“ sei er nach einem Zwölf-Stunden-Tag, gibt er zu – blickt aber dennoch mit wachen, sehr blauen Augen in die Welt, während er von seinem Tagespensum berichtet: Training im Ballettsaal, Bühnenprobe, die letzten Schritte seines Stücks „Qi“ choreografieren, an den Kostümen feilen. Und dann noch ein Zweieinhalb-Stunden-Durchlauf durch „Krabat“, das magische Müllersburschen-Spektakel, in dem er den Lyschko tanzt und das am Folgetag auf dem Spielplan steht.

So sehen Tage aus, wenn man Tänzer ist, genauer Halbsolist beim Stuttgarter Ballett sowie dazu noch Choreograf und gut eine Woche vor der Uraufführung eines 25-minütigen Stücks steht. Eines Stücks, das Stiens nicht nur choreografisch verantwortet, sondern bei dem er Lichtregie (gemeinsam mit Christine Nasz) und Kostümentwurf gleich mit übernommen hat.

Umso wichtiger ist es für ihn, bei Nacht zur Ruhe zu kommen – womit er schon beim Thema seiner neuen Choreografie ist: „Qi“ ist das dritte im Bunde der „Nachtstücke“, die der gleichnamige Ballettabend am Freitag im Schauspielhaus offeriert. Ein Abend, mit dem der Ballettintendant Reid Anderson den Zuschauern mit seiner Kompanie tänzerisch die Facetten der Finsternis vor die Füße legen will.

Soghafte Trommelrhythmen

So spürt Edward Clugs „Ssss“ zu Chopins „Nocturnes“ der nicht nur alliterativ verbundenen Kombination von Melancholie und Mitternacht nach; der Direktor des Slowenischen Nationalballetts hat das Stück 2012 für das Stuttgarter Ballett kreiert – jetzt kehrt es ins Schauspielhaus zurück. Jiri Kylians „Falling Angels“ hingegen, das neu ins Repertoire kommt, schöpft Dynamik aus der Spannung von Licht und Schatten, von Soli und Ensemble-Szenen, begleitet von soghaften Trommelrhythmen.

Der 25-jährige Stiens ist vor allem an der „Nacht als Kraftquelle“ interessiert, wie der Cranko-Absolvent sagt; „Qi“ komme aus dem Chinesischen, bedeute so viel wie Energie, Atem. „Nachts kommt der Körper zur Ruhe, der Lärmpegel sinkt, man wird feinfühliger, man sieht anders, man muss sich mehr konzentrieren“, beschreibt er die Metamorphosen, die sich mit der Dunkelheit vollziehen.

Allerdings ist die Versuchung, die Einladung zur Erholung in den Wind zu schlagen und die Nacht zum Tage zu machen, für viele Menschen groß – auch für Stiens, den Nachtschwärmer, der im Netz gern nach avantgardistischen Electro-Sounds stöbert, den es in die Clubs zieht zum Tanzen oder zum Musikauflegen.

Clubkultur und Ballettwelt – diese Gegensätze prallen auch bei der Musik für sein Nachtstück aufeinander: Eine Barockkomposition von Johann Heinrich Schmelzer trifft mit ihrem „höfisch-mittelalterlichen Touch“ auf einen Technotrack von Evian Christ.

Selbstbewusst bis radikal zeitgenössisch

Hart sei der Wechsel vom Ballettstudio, wo er das Gros des Stücks erarbeitet hat, auf die Bühne, sagt Stiens: „Man erkennt, was nicht funktioniert, und fragt sich, ob es noch zu retten ist.“ Trotzdem wirkt er locker, ist gut drauf – da sitzt einer, der mit sich im Reinen ist. Nachwuchs-Choreograf, so muss man ihn wohl noch bezeichnen, auch wenn er bereits eine beachtliche Wegstrecke hinter sich hat. Der gebürtige Münchner, der aus einer Musikerfamilie stammt, als Kind viel zeichnete, mit sechs in den Ballettunterricht ging, war immer schon neugierig aufs Choreografieren – mit ein Grund, weshalb er 2009 nach Stuttgart an die John-Cranko-Schule kam und sich erstmals 2010 für einen Noverre-Abend an die Kreation eines Solos wagte („Mäuse“). In der Folge choreografierte er unter anderem auch für die Cranko-Schule („Still light“) oder den Porsche Tennis Grand Prix („Sit back“; MatchBox“); 2012 schuf er zusammen mit dem Hauschoreografen Marco Goecke, einem seiner Vorbilder, „Dancer in the Dark“.

Stiens Choreografien fallen auf; selbstbewusst bis radikal zeitgenössisch ist seine Bewegungssprache, wiewohl vom Klassischen grundiert – unübersehbar stecken ein junger Kopf und seine Lebenswelt dahinter. Die Gefahr, statt Poesie auch mal nur Plakatives zu produzieren, konnte er dabei nicht immer bannen. „Kunst kann schockieren, anstößig sein“, sagt Stiens, „das wollte ich auch eine Zeit lang, um mich selbst zu finden.“ Inzwischen gehe es ihm vor allem darum, „Energie mit Menschen zu teilen“: Im besten Fall mit seiner Kunst beim Betrachter etwas auszulösen – darin sieht er das Wesen des Choreografierens. Um das herausfinden zu können, habe er viel ausprobieren müssen – „unglaublich“ findet er, dass ihm Reid Anderson das ermöglicht habe.

Der Intendant förderte von Beginn an Stiens choreografisches Talent, vertraute ihm 2013 die erste Auftragsarbeit an. In „Rausch“ huldigte er beim Ballettabend „Tanzlabor“ der Technokultur, porträtierte seine Generation zwischen Höhenflug und Fall. Inzwischen gehen 25 Stücke auf sein Konto – eine beachtliche Zahl für einen 25-Jährigen.

Clubkultur und Ballettwelt prallen in „Qi“ aufeinander

Wo ist er als Schritte-Architekt inzwischen angekommen? „Ich bin zufriedener, ruhiger geworden, mein Geschmack kristallisiert sich heraus“, antwortet er nach kurzem Überlegen. Er habe festgestellt, dass er auch abstrakt arbeiten könne: „Als Choreograf muss man nicht unbedingt eine große Aussage finden – die kann einfach auch im Tanz selbst liegen.“ Eine wichtige Station hierbei sei der „Blick hinter die Kulissen“ gewesen, wo er im vergangenen April an sechs Abenden im Kammertheater das Stück „Sap“ choreografierte, vor Publikum seine Bewegungsskizzen zu einem Siebenminüter ausbaute.

Dabei war auch live zu erleben, wie sehr die Tänzer als Problemlöser und Impulsgeber am Kreationsprozess beteiligt sind. Bei „Qi“, seiner zweiten Auftragsarbeit für das Stuttgarter Ballett, sei das nicht anders gewesen: „Die Tänzer geben unheimlich von sich da hinein, das rührt mich manchmal zu Tränen.“

Aus seiner eigenen Erfahrung als Tänzer zieht er denn auch vielleicht die wichtigste Lektion für sein ChoreografieGeschäft: „Tänzer müssen einfach üben, um gut zu sein. Und ein Choreograf eben auch. Dann läuft es routinierter, dann fängt der Spaß so richtig an. Auf die Routine freue ich mich schon!“ Sagt er. Und lacht. Es ist ein ungeheuer ansteckendes, lebendiges und gar nicht müdes Lachen.

Termin Der Ballettabend „Nachtstücke“ feiert an diesem Freitag, 24. März, im Schauspielhaus Premiere; weitere Vorstellungen am 28. März, 1., 2., 25. April, 3. Mai. Für alle Vorstellungen gibt es eventuell Restkarten an der Abendkasse.