Pflegeeinrichtungen müssen sich auf eine wachsende Zahl von älteren Migranten einstellen Foto:  

Rund 1000 Fachleute, Betroffene und Angehörige haben sich am Donnerstag in Mannheim zu einem Infotag „kultur- sensible Pflege“ getroffen – ein Hinweis darauf, dass dieses Thema immer mehr an Bedeutung gewinnt. Mit dabei auch Gökay Sofuoglu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

- Herr Sofuoglu, was genau versteht man unter „kultursensibler Pflege“?
Gemeint ist die Beachtung kultureller Vielfalt in Pflegeeinrichtungen, die Bildung multikultureller Pflegeteams und ganz allgemein Angebote für Menschen aus unterschiedlichen Kulturen.
Wie stellt sich das in der Praxis dar?
Gegenwärtig ist dieses Bewusstsein nicht besonders stark ausgeprägt – ganz einfach deshalb, weil es noch nicht so viele Migranten in Pflegeeinrichtungen gibt. Doch das wird sich ändern. In einigen Jahren kommen die Migranten der ersten Generation ins Pflegealter. Deshalb ist es wichtig, solche Angebote zu haben.
Können Sie Beispiele nennen?
Die Sprache ist wichtig. Je älter man wird, desto mehr will man sich in der Muttersprache unterhalten. Dann gibt es viele kleine Dinge, die man beachten sollte. Zum Beispiel, dass man das Wohnzimmer nicht mit Schuhen betritt. Das geht weiter bei Einrichtungsgegenständen – ein türkischer Teppich, ein Teekocher oder Bilder, die die Leute an ihre Heimat erinnern. Wichtig ist auch, dass die Migranten sicher sein können, dass sie das zu essen bekommen, was sie bestellt haben, dass also beispielsweise kein Schweinefleisch serviert wird. Oft ist es auch so, dass Männer sich nicht gerne von Frauen pflegen lassen und umgekehrt – ohne dass man hier pauschale Aussagen treffen kann.
Was ist mit Gebetsräumen?
Eigene Gebetsräume geben den Migranten das Gefühl, willkommen zu sein – vergleichbar dem christlichen Andachtszimmer. Ob sie dann beten, ist eine andere Frage.
Nach einer Studie der Universität Heidelberg betreuen heute schon 76 Prozent der Pflegeheime und mehr als 80 Prozent der ambulanten Dienste Menschen mit Migrationshintergrund. Dennoch würden kulturelle Unterschiede nur in der Hälfte dieser Einrichtungen berücksichtigt. Wie kommt das?
Die Einrichtungen sehen erst mal den Menschen und nicht, woher er kommt – das ist eigentlich ein guter Ansatz. Doch es ist auch wichtig, auf kulturelle Merkmale zu achten. Die Pflege an sich ist oft sehr gut, doch es geht auch um Lebensqualität – die Möglichkeit, abends einen Tee zu trinken oder auch mal türkische oder italienische Musik zu hören. Solche Angebote sind in etlichen Einrichtungen noch zu wenig vorhanden.
Viele Betroffene und Angehörige finden sich der Umfrage zufolge im Pflegesystem nicht zurecht. Das gilt vermutlich auch für Deutsche. Was muss sich ändern?
Das System ist in der Tat sehr kompliziert. Allein die Einstufung in verschiedene Pflegestufen sorgt für viel Verwirrung. Für Migranten ist das noch viel schwieriger als für Deutsche.
Die Zahl der älteren Mitbürger mit Migrationshintergrund steigt. Gleichzeitig werden die familiären Netzwerke brüchiger . . .
. . . das stimmt. Auch in der türkischen Community gibt es hohe Scheidungsraten. Der Familienverbund fängt längst nicht mehr alles auf. Dazu kommt, dass viele Frauen erwerbstätig sind. Die wenigsten Migranten gehören der Oberschicht an, sie verfügen nicht über die entsprechenden Räumlichkeiten. In der Türkei ist das anders. Dort ist es selbstverständlich, dass man die Eltern bis zum Tod zu Hause pflegt. Man fühlt sich dazu auch moralisch verpflichtet.
Trotzdem ist der Anteil von Türkischstämmigen in deutschen Pflegeheimen viel geringer als ihr Anteil in der Gesellschaft. Warum?
Das liegt daran, dass die Pflegeheim-Kultur in der türkischen Community noch nicht verankert ist. Das kann sich aber in den nächsten Jahren ändern.
Sind Menschen mit Migrationshintergrund im Alter kränker als die sogenannten Bio-Deutschen?
Viele Migranten haben ein Leben lang davon geträumt, im Alter wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Wenn sie feststellen, dass das aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist, kann das zu psychischen Problemen führen. Ich merke das selbst – je älter ich werde. Ich fühle mich in Deutschland sehr wohl und will auch im Alter hier leben, aber die Tatsache, dass der Weg zurück fast ausgeschlossen ist, stellt schon eine Belastung dar.
Mehr Migranten in Pflegeberufe und eine bessere Aus- und Fortbildung der Pflegekräfte schlägt das Sozialministeriums vor. Findet das Widerhall?
Beides ist wichtig. Interkulturelle Kompetenz muss Bestandteil der Ausbildung werden. Mit ein paar Zusatzstunden ist es nicht getan.
Die Ministerinnen Katrin Altpeter (Soziales) und Bilkay Öney (Integration) setzen auch auf das Engagement von Migrantenverbänden. Was können Sie als Vorsitzender der Türkischen Gemeinde tun?
Als Türkische Gemeinde in Baden-Württemberg vermitteln wir gezielt Frauen in den Altenpflegeberuf – derzeit sind das etwa 120 Frauen im Raum Stuttgart und Karlsruhe. Die Aufforderung ergeht aber zu Recht: Alle Migrantenverbände sollten sich einbringen und sich engagieren. Was mich freut, ist, dass die Landesregierung sich des Themas verstärkt annimmt. Und das nicht nach dem Motto, jetzt machen wir mal was für Migranten. Vielmehr wird kulturelle Vielfalt in der Pflege als gesellschaftliches Thema begriffen, das wir gemeinsam anpacken müssen.