Noch immer versuchen Tausende Migranten in völlig überfüllten Schlauchbooten nach Europa zu kommen – auf der Suche nach Frieden und einem besseren Leben. Foto: dpa

Jonas Helbig ist Pfarrer und Notfallseelsorger. Als Mitglied der Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen koordiniert er die Betreuung von Ehrenamtlichen, die Flüchtlinge aus Schlauchbooten im Mittelmeer retten.

Vaihingen - Seit einem Jahr ist die Balkanroute zu. Doch noch immer versuchen Tausende Migranten über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Tage- und wochenlang harren sie in völlig überfüllten Schlauchbooten aus, in der Hoffnung, gerettet zu werden.

Herr Helbig, Sie engagieren sich auf besondere Weise in der Flüchtlingsarbeit. Was genau machen Sie?
Meine Aufgabe ist es, die Betreuung der Ehrenamtlichen zu koordinieren, welche sich dazu entschlossen haben, vor der libyschen Küste Menschen aus völlig überfüllten Schlauchbooten und menschenunwürdigen Situationen zu retten.
Worum genau geht es bei dieser Betreuung von Ehrenamtlichen?
Es geht um die Stressverarbeitung bei belastenden Ereignissen beziehungsweise um die Frage, wie der Mensch mit belastenden Ereignissen umgehen kann. Die Ehrenamtlichen müssen seelsorgerisch und psychosozial betreut werden. Dazu gibt es die Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen, die SbE. Wir werden von den Nicht-Regierungsorganisationen, den NGOs, angefordert, um den ehrenamtlichen Crews zu helfen, welche sich um die Flüchtlinge im Mittelmeer kümmern. Die Mitglieder der SbE bereiten diese Ehrenamtlichen in einem sogenannten Briefing auf ihren Einsatz vor. Die Gruppe soll so besser zusammenfinden und merken, dass jedes einzelne Crewmitglied seine besonderen Kompetenzen einbringen kann. Vor allem aber sollen die Crewmitglieder darauf vorbereitet werden, was bei einem solchen Einsatz mit ihrer Seele passieren kann.
Wie reagieren die Ehrenamtlichen auf dieses Hilfsangebot?
Die Menschen nehmen es sehr dankbar auf, dass auch jemand darauf achtet, was sie als Ehrenamtliche empfinden. Es geht um den Selbstschutz der Ehrenamtlichen. Und wenn die Crewmitglieder wissen, worauf sie bei sich selbst achten müssen, wissen sie auch, worauf sie bei den anderen Ehrenamtlichen in der Gruppe achten müssen.
Und worauf müssen sie achten?
Es gibt positiven und negativen Stress. Bei positivem Stress ist der Mensch auf ein Ereignis fokussiert und kann die Anspannung positiv nutzen. Doch wenn zu diesem Stress weitere Ereignisse hinzukommen, zum Beispiel ein Anruf aus der Heimat, dass die Mutter ins Krankenhaus muss, dann kann schnell negativer Stress entstehen. Die Experten sprechen von einer Stresstreppe. Wir versuchen, den Ehrenamtlichen Werkzeuge an die Hand zu geben, um mit dieser Stresstreppe besser umgehen zu können.
Nach ihren Einsätzen brauchen die Ehrenamtlichen doch aber auch Hilfe.
Ja, darum empfangen wir die Crews nach ihren Einsätzen zu einem sogenannten Debriefing, bei dem das Erlebte auf eine bestimmte Weise und in bestimmten Formen ausgedrückt wird. Und die Ehrenamtlichen sollen lernen, in den Wochen nach ihrem Einsatz auf bestimmte Faktoren zu achten. Konzentrations- und Schlafstörungen oder auch Hypersensibilität sind in der unmittelbaren Zeit nach solchen Erlebnissen normal. Wenn diese Symptome aber länger als vier Wochen anhalten, sollten die Betroffenen professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Darum rufen wir die Ehrenamtlichen nach vier Wochen noch einmal an. Die Ehrenamtlichen starten sehr motiviert in ihren Einsatz auf einem Rettungsboot. Wir wollen, dass sie nach ihrem Einsatz wieder gesund in den Alltag zurückfinden, in unserem Paradies Deutschland wieder eine Erdung finden.
Was erleben die Ehrenamtlichen auf ihren Einsätzen?
Auf die kleinen Schlauchboote werden manchmal 120 Menschen in engsten und miserabelsten Zuständen verfrachtet. Die Ehrenamtlichen können nicht immer alle retten. Die, die gerettet werden, sind unendlich dankbar. Für sie ist es oft das erste Mal nach Wochen und Monaten, dass ihnen ein Mensch mit Wohlwollen begegnet. Doch die Ehrenamtlichen müssen bereits nach wenigen Stunden wieder Abschied nehmen und die Flüchtlinge wieder in eine ungewisse Zukunft entlassen. Das ist für viele sehr belastend.
Wie kamen Sie denn zur Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen, also zur SbE?
Ich engagiere mich seit vielen Jahren in der Notfallseelsorge und habe in diesem Rahmen auch viele Zusatzausbildungen absolviert. Vor einiger Zeit kam dann der Impuls aus der Berufsfeuerwehr Stuttgart heraus. Was für die Bevölkerung schon lang da war, eine seelsorgerliche und psychosoziale Betreuung bei großen Unglücken, also eine Notfallseelsorge, wünschte sie sich auch für ihre eigenen Leute. So kam der Kontakt zur SbE zustande, zusammen gründeten wir das Einsatzkräfte-Nachsorge-Team Stuttgart (ENTS).
Waren Sie auch schon einmal selbst bei einem Einsatz im Mittelmeer?
Ja, bevor ich die Aufgabe übernommen habe, die Einsätze der SbE zu koordinieren, wollte ich es selbst einmal gemacht haben. Ich war vor zwei Jahren auf Lampedusa und vor einem Jahr auf Malta, um ehrenamtliche Crews auf ihren Einsatz vorzubereiten beziehungsweise diese nachzubereiten.
Und waren Sie auch schon mal selbst auf einem Schiff, um Flüchtlinge von einem Schlauchboot zu retten?
Nein.
Warum nicht?
Das ist ein zeitlicher Faktor. Ich habe hier in Vaihingen eine 100-Prozent-Pfarrstelle, die ich mit meinem Ehrenamt als Notfallseelsorger und als Koordinator bei der SbE in Einklang bringen muss.
Warum ist Ihnen dieses Ehrenamt wichtig?
Für Menschen da zu sein, die anderen helfen, und denen dabei unter Umständen der Boden unter den Füßen weggezogen wird, ist eine genuin christliche Aufgabe. Wenn die Kirche dort nicht ansetzt, wo dann? Die Menschen, die helfen, sollen trotz der bedrückenden Erfahrungen, die sie dabei machen, wieder ins Leben zurückfinden.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass das Potenzial, was sich in Deutschland in den vergangenen 60 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg an Demokratie und Sozialengagement aufgebaut hat, genutzt werden kann. Dazu muss Deutschland die Realität ernst nehmen, darf die Flüchtlingsproblematik im beginnenden Wahlkampf nicht klein geredet werden. Es gibt noch immer viele tausend Flüchtlinge, die unter unwürdigsten Bedingungen leben müssen. Doch vieles kommt uns gar nicht in den Blick. Wir lassen uns wohlwollend die Augen verschließen.
Was genau meinen Sie damit?
Die Politik traut sich nicht zu, der Bevölkerung zuzutrauen, die Realität wie sie ist, anzuschauen. Das finde ich verheerend, denn irgendwann platzt diese „Wir-haben-alles-im-Griff-Blase“. Und vor allem sinkt das Sozialengagement, wenn alle glauben, dass alles nicht so schlimm ist. Deutschland könnte viel mehr leisten, wenn es die Realität anerkennen würde.
Ist Ihre Arbeit für sie selbst belastend?
Ja, aber es ist positiver Stress. Stress, der mich motiviert und mich anspornt, mich nicht mit der derzeitigen Situation im Mittelmeerraum abzufinden.