Jürgen Kaiser in seinem Büro im Evangelischen Medienhaus Stuttgart Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

In seinem Buch „Daheim verkannt – in der Welt bekannt“ porträtiert der Pfarrer und Journalist Jürgen Kaiser 17 Schwaben, die erst ihre Heimat verlassen mussten, um es im Leben zu etwas zu bringen. Wir wollten von dem Chef des Evangelischen Medienhauses Stuttgart wissen, ob es ein schwäbisches Erfolgsrezept gibt.

Stuttgart – - Herr Kaiser, Sie sind ein viel beschäftigter Mann und haben nebenbei ein Buch geschrieben. Da drängt sich einem als Schwabe die Frage auf: Ist Ihnen zu wohl?
Nein, aber ich weiß zu viel. Im Ernst: Ich kann mir gut Geschichten merken, im Gegensatz zu Namen. Anhand von Geschichten kann man auch Geschichte erklären. Das ist mir ein Bedürfnis.
Der Untertitel Ihres Buchs lautet „Wie knitze Schwaben die Welt veränderten“. Geht es um die Ehrenrettung eines Volksstamms?
Nein. Ich habe unter anderen in Göttingen und Edinburgh in Schottland studiert. In Göttingen habe ich fern der Heimat mein Schwabentum entdeckt. In Edinburgh habe ich festgestellt: Egal, wo du hinkommst, ein Schwabe ist immer schon da. Das ist mir auf der ganzen Welt so ergangen.
Man verstand Sie überall, auch in Göttingen?
Selbstverständlich. Obwohl ich dort konsequent „Grüß Gott“ gesagt habe – und mir tausendmal anhören musste: „Dann grüß ihn mal schön.“ Ich habe nachgeforscht, woher der Ausdruck kommt, und war verblüfft, dass Grüß Gott das dasselbe ist wie Ade. Das französische „à dieu“ bedeutet bei Gott.
Daheim verkannt – in der Welt bekannt. Ist das ein schwäbisches Phänomen?
Zum Teil. Andere Volksstämme sind aus schierer Not ausgewandert. Das war in Schwaben nur ein Grund. Der andere Grund war, dass Schwaben 200 Jahre lang das lutherische Spanien genannt wurde. Spanien war eine Anspielung auf die Inquisition. Hier herrschte extreme Überwachung durch die Nachbarschaft. Die Gefahr war groß, angezeigt zu werden, wenn man gegen eines der 100 Gesetze verstoßen hatte. Von 1607 bis 1892 gab es Denunziantengeld, das hieß, wenn jemand verurteilt wurde, bekam der Anzeigende ein Drittel der Strafe als Belohnung. Kein Wunder, wenn in so einer Atmosphäre die Menschen duckmäuserisch und misstrauisch werden.
Wer was erreichen wollte, suchte das Weite.
Der erste Schwabenstrom zog die Donau hinunter. Im 19. Jahrhundert gingen die Schwaben ins gelobte Land, nach Amerika.
Sie steigen mit Schiller ein.
Klar. Der konnte bei der ganzen Engstirnigkeit und Bigotterie, die in Württemberg herrschte, nichts werden.
Haben Sie sämtliche der von Ihnen porträtierten 17 Schwaben vorher schon gekannt?
Überhaupt nicht, ich bin stolz, Leute wie Conrad Weiser, den ersten Schwaben in Amerika, für mich entdeckt zu haben. Oder Emanuel Leutze, der das Bild gemalt hat, das George Washington beim Überqueren des Delaware zeigt. Das ist in jedem US-Schulbuch abgedruckt. Oder der Architekt und Kommunist Adolf Cluss, bei dem nicht nur die Häuser rot waren. Dessen Spuren finden sich heute noch in Washington.
Selbst bei der Brauerei Beck’s haben Sie schwäbische Wurzeln entdeckt.
Da bin ich draufgekommen, nachdem mir ein Freund in Pennsylvania stolz ein deutsches Bier unter die Nase gehalten hatte. Auf der Flasche stand „Gebraut von der Bavaria Brauerei Bremen“. Ich sagte: Die gibt es nicht, begann zu recherchieren und fand heraus, dass es sich um Beck’s Bier handelte. Heinrich Beck, der Gründer der Brauerei, ist in Eislingen an der Fils geboren – und hat mit einer genialen Idee den Grundstock für einen Brauereikonzern gelegt. Er hat mitbekommen, dass die Kapitäne ihre Schiffe mit Ballast beladen mussten, weil aus Deutschland wenig exportiert wurde. Also schlug er ihnen vor, sie sollen doch sein Bier mitnehmen und es in Übersee verkaufen. So kam Beck’s Fassbier in die ganze Welt.
Wer hat Sie am stärksten beeindruckt?
Max Eyth – auch deshalb, weil das Gymnasium, auf das ich ging, nach ihm benannt war. Auf dem Schulhof stand ein Lokomobil, auf dem wir Buben herumgeturnt sind.
Das war eine seiner Dampfmaschinen?
Ja, man konnte damit Pflüge oder Pumpen betreiben. Der Ingenieur Eyth hatte große Ideen und ging dorthin, wo sie auf fruchtbaren Boden stießen. Zuerst nach England, von dort wurde er hinausgeschickt in die Welt. Als er zurück nach Deutschland kam, trieb er die Industrialisierung der Landwirtschaft voran, ohne die das Deutsche Reich die Massen hätte nicht ernähren können. Max Eyth war ein Mann mit vielen Talenten. Er konnte fantastisch zeichnen und schreiben.
Etliche der von Ihnen beschriebenen Schwaben waren Wirtschaftsflüchtlinge.
Bei den Menschen, die nach Russland zogen, war vieles religiös begründet. Aber als der württembergische König erlaubte, eine christliche Kolonie in Korntal zu gründen, gab es keinen Grund mehr, deshalb auszuwandern. Jene, die nach Amerika gingen, waren Wirtschaftsflüchtlinge. Wer Verwandte in den USA hat und über Wirtschaftflüchtlinge flucht, sollte mal in sich gehen.
Wenn man die Porträts liest, fällt der Mut der Auswanderer auf.
Schon, aber man muss sehen, ich habe die Genies ausgegraben, diejenigen, die es geschafft haben. Mut kommt manchmal auch aus der Verzweiflung heraus. Für Auswanderer galt der Spruch: den Ersten der Tod, den Zweiten die Not, den Dritten das Brot.
Gibt es ein schwäbisches Erfolgsmodell?
Ich bin überzeugt davon, dass der oft geschmähte schwäbische Pietismus mit einem Erfolgsmodell zu tun hatte. Wir hatten eine strenge Reformation, aber das hatten andere auch. Bei uns aber kam der Pietismus dazu, und das bedeutete: Was der Pfarrer am Sonntag in der Kirche predigt, setzen wir am Montag um – per Gesetz. Das führte, wie vorhin beschrieben, zur Überwachung. Dazu kam, dass die Leute zwar bettelarm, aber saumäßig gebildet waren. Was die meisten nicht wissen: In Württemberg wurde 1559 die allgemeine Schulpflicht eingeführt.
Auch für Mädchen?
Theoretisch schon, aber die kamen erst ab dem Dreißigjährigen Krieg in den Genuss. Das Schulsystem wurde mit dem Geld finanziert, das man der katholischen Kirche genommen hatte. Jeder Pfarrer und Lehrer war angewiesen, die Käpsele aus der Masse herauszufischen. Ohne Ansehen des Standes und des Geldbeutels.
Was können wir von den schwäbischen Auswanderern lernen?
Niemals aufzugeben. Wenn man eine gute Idee hat, klappt sie aufs erste Mal nicht unbedingt. Aber irgendwann schon. Wie bei Karl Pfizer, der, nachdem die 1848er-Revolution den Bach runtergegangen war, nach Amerika floh. Er hatte nichts als eine Idee. Ihm fiel auf, dass in New York die Leute gekrümmt herumliefen, weil sie an Würmern litten. Pfizer wusste, dass man aus Chinin ein Wurmmittel machen kann. Das Problem war, dass die Amerikaner die bitteren Pillen ausspuckten, bevor sie wirken konnten. Mit seinem Cousin, einem Konditor, kam er auf die Idee, die Pillen mit Zuckerguss zu umhüllen. Sie sagten den Amerikanern: Zweimal lutschen, dann schlucken. Bevor die merkten, dass die bitter waren, waren die Pillen weg. Das war der Durchbruch.
Klingt clever.
Das ist Schwäbisch: Du machst was, es klappt nicht, aber du gibst nicht auf. Das ist Dialektik. Die These klappt nicht, also versuchen wir es mit der Antithese.