Szene aus „Peter Pan“. Foto: A. T. Schaefer

Im Auftrag der Oper Stuttgart hat der britische Komponist Richard Ayres die erste „Peter Pan“-Oper geschrieben. Die Uraufführung am Donnerstag lässt durch ihre fantasievolle Ausstattung die Oberfläche glitzern, denkt aber kaum über die Dekoration hinaus.

Im Auftrag der Oper Stuttgart hat der britische Komponist Richard Ayres die erste „Peter Pan“-Oper geschrieben. Die Uraufführung am Donnerstag lässt durch ihre fantasievolle Ausstattung die Oberfläche glitzern, denkt aber kaum über die Dekoration hinaus.

Stuttgart - Der Mann, der Peter Pan seinen Vornamen und markante Wesenszüge lieh, hieß Peter Llewelyn Davies und warf sich 1960 vor einen Zug. Er konnte nicht vor dem Tod wegfliegen wie die Kunstfigur, zu der er den britischen Autor James Matthew Barrie Anfang des 19. Jahrhunderts inspiriert hatte. Er konnte nicht vergessen wie dieser, und er hatte auch kein Neverland (Nimmerland), in das er sich und seine Träume hätte retten können.

Als „schreckliches Meisterwerk“ hatte der wahre Peter zuvor den Roman „Peter Pan“ bezeichnet, und tatsächlich erzählt dieser Märchen-Bestseller unter seiner schillernden Oberfläche eine zweite, grausige Geschichte, an der Tiefenpsychologen und Traumdeuter ihre helle Freude haben. Diese Geschichte unter der Geschichte handelt von Flucht, Verdrängung, Missbrauch. Sie macht „Peter Pan“ zu Literatur. Und zu einem Buch auch für Erwachsene. Sie macht aus dem Märchen für Kinder ein Märchen über Kinder. Diese zweite Geschichte müsste eine Rolle spielen, wenn aus „Peter Pan“ etwas wird, das sich Familienoper nennt.

Das ist dem Komponisten vorzuwerfen: Richard Ayres, britischer Komponist des Jahrgangs 1965, und seine Librettistin Lavinia Greenlaw bleiben vornehmlich auf der Ebene des freundlich Dekorativen. Die Partitur zeugt vor allem dort von viel kunsthandwerklichem Geschick, wo Ayres, der auch ein brillanter Instrumentator ist, verkleidete stilistische Anspielungen einspeist: Da steht Neoklassisches neben romantischer Emphase und impressionistischem Farbklang, Zwölftonreihen huschen ebenso am Ohr vorbei wie Anklänge an Wagners „Holländer“, an die kleinzellige Sprachklang-Musik Janáceks, an die Wiederholungsmuster US-amerikanischer Minimalisten, an Wiegenlieder des 19. Jahrhunderts oder an englische Seemanns-Shantys. Roland Kluttig steuert das Staatsorchester sicher durch das verspielt-Lautmalerische wie durch die zahlreichen anspruchsvollen Solopassagen des Stücks. Das ist gut gemacht, das kann man genießen.

Gleiches gilt für das, was man an diesem Abend zu sehen bekommt. Duncan Hayler hat nicht nur sprechende Kostüme entworfen, sondern außerdem eine fantasievolle, wandelbare, manchmal sogar hintersinnig bebilderte Bühne gestaltet. Da zeigen drei übergroße Betten vor zwei gigantischen Fensterflügeln die Perspektive der Kinder, da beleben weiße , federnde Luftballons die blaue Traumwelt von Nimmerland, da nahen Piraten in einer Badewanne mit Stehlampe. Am Ende entpuppt sich (was für ein Theatercoup!) ein Podest als Oberkiefer eines riesigen Krokodils, das sein Maul aufreißt und alles Böse verschlingt. Und über allem lässt Horacio Peralta immer wieder zauberhaft das kleine weiße Gespensterpüppchen Tinker Bell schweben.

Der Regisseur Frank Hilbrich führt das vielköpfige singende Personal des Stücks geschickt über die bunte Bühne. Etliche beton kindische Verhaltensweisen des Chores wirken allerdings überzeichnet. Für beeindruckende Effekte sorgt Ran Arthur Braun als „Aerial Director“: An Seilen aus dem Schnürboden schweben Josefin Feiler als Michael, Daniel Kluge als John und Yuko Kakuta als (trotz Erkältung) hinreißend höhenklare und spielfreudige Wendy Darling davon, und dank präzise einstudierter Flugbewegungen bekommt Iestin Morris am Ende nicht nur als Sänger langen Beifall.

Morris ist ein Countertenor, und die männliche Falsettstimme passt exzellent zum Titelhelden des Stücks. Schließlich ist Peter Pan eine Figur zwischen den Geschlechtern, zwischen Gut und Böse, Kind und Erwachsenem, Unbewusstem und Bewusstem. Ein Wesen aus der Zwischenwelt, an dem man spielerisch eine zweite Ebene, eine Ebene der Verweise und (Be-)Deutungen hätte befestigen können.

Das ist auch deshalb nicht geschehen, weil die Musik es nicht vorsieht. Richard Ayres’ Partitur endet, als die Kinder von ihrem Ausflug in Anarchie und Verantwortungslosigkeit in die gesellschaftliche Normalität zurückkehren, mit einem Grundakkord, der so ungetrübt strahlt, dass man ihn mit Grund harmonistisch oder gar reaktionär finden kann. Von einem doppelten Boden ist hier nichts zu hören. Fragen werden ebenfalls nicht gestellt. Nicht nach der bigotten (Sexual-)Moral der Familie Darling oder nach der verbrämten Keuschheit der Ehefrau, die Helene Schneiderman wundervoll ausspielt. Und auch nicht nach dem Gegenprinzip zu Peter Pan, dem einarmigen Captain Hook (Espen Fegran), der in diesem Stück ohnehin ein bisschen konturlos bleibt.

Immerhin hat er lustige Gesellen an seiner Seite: Mark Munkittrick bildet mit Torsten Hofmann ein quirliges Piraten-Duo, und Lindsay Ammann ist eine verführerische Tiger Lily. Dennoch duftet die Oper „Peter Pan“ am Ende penetrant nach Musical. Der Stachel fehlt. Ein Haus wie die Oper Stuttgart hätte ihn aber unbedingt ins Fleisch der Unterhaltung bohren müssen.

Nochmals am 5., 10., 11. und 16. Januar, Karten: 07 11 / 20 20 90.