Edgar Selge (Mitte) als Peer Gynt in Stuttgart Foto: Conny Mirbach

Zurzeit macht das Theater eine ähnliche Sinnkrise durch wie Ibsens Held Peer Gynt. Vor diesem Hintergrund lässt sich Christopher Rüpings Inszenierung des Stücks als Selbstfindungsversuch einer Kunstform deuten.

Stuttgart - „Peer Gynt“, raunt eine weibliche Stimme verführerisch in den Zuschauerraum, während sich der eiserne Vorhang in Zeitlupe hebt. Dahinter Leere. „Peer Gynt“, hört man, während die Bühnenrückwand hochfährt. Wieder Leere. „Peer Gynt“ wird gewispert, und die Tür zum Lastenaufzug schiebt sich auf. Dunkles Nichts. Wo beginnt es denn nun, das Stück, das Theater?

Ein geflüstertes „Peer Gynt“ später – und endlich steht er hinter der zweiten Aufzugtür: Edgar Selge in Kniebundhosen und weißer Bluse. Der Held schreitet, einen Scheinwerfer wie eine lebenswichtige Infusionspumpe neben sich her rollend, auf die Bühne und startet mit einem wahnwitzigen Reimmonolog über eine fantastisch erlogene Bockjagd. Bilder von Bergpässen und Nebelschwaden werden im Zuschauerhirn heraufbeschworen, begleitet vom erstaunten Raunen seiner fünf Mütter, gespielt von Julischka Eichel, Caroline Junghans, Svenja Liesau, Nathalie Thiede und Birgit Unterweger.

So textnah und historisch kostümiert Christoph Rüpings Inszenierung von Ibsens dramatischem Gedicht „Peer Gynt“ beginnt, so unbedingt fordert es vom ersten Moment an die Fähigkeit des Publikums, eine andere Ebene mitzudenken.

Das Theater macht eine schwierige Transformationsphase durch

Ibsen ist tot, und auch „das Theater“ liegt momentan anscheinend im Sterben. Zumindest macht es eine schwierige Transformationsphase durch, in der sich junge Regisseure ähnliche Fragen stellen wie Peer Gynt.

Der ist ein fantastischer Lügenerzähler, dessen Geschichten ihn und seine Mutter über die ärmliche Realität hinwegtrösten. Aber was bleibt von Peer Gynt, wenn die Mutter stirbt, die diese Geschichten eingefordert hat? Wer ist der Peer Gynt hinter den Lügen? Die Suche nach dem Kern des eigenen Wesens ist in Rüpings Inszenierung nichts weniger als die Suche nach dem Kern des Theaters, das sich vom Erbe seiner Geschichten zu emanzipieren sucht. Peer Gynt ist die Verkörperung des Theaterbegriffs in seiner gegenwärtigen Adoleszenzphase.

Sehr bald befriedigen die realitätsfernen Geschichten Peer Gynts nicht mehr. Das bewundernde „Ah“ und „Oh“ der Mütter weicht verächtlichen Kommentaren, und sie wenden sich gelangweilt vom klassischen Spiel des sich reimend abkämpfenden Edgar Selge ab. Der Sohn träumt zu viel vom besseren Leben, anstatt es aktiv herbeizuführen.

Was aber bleibt vom Theater, wenn es nicht mehr nur Ort von Fiktion und Traum sein soll, sondern Spielstätte der Realität? Entspricht diese Realität wirklich noch einem männlichen Schauspieler in der Hauptrolle des klassischen Dramas?

Mütter in Hosenanzügen klar in der Überzahl

Nein. Hier sind Peer Gynts Mütter in Hosenanzügen klar in der Überzahl. Obwohl man sich fragt, ob es wirklich fünf Frauen braucht, um die Strahlkraft einer männlichen Starbesetzung zu kompensieren.

Peer emanzipiert sich selbstbewusst und verlässt das Territorium seiner Mütter mit 24 „freiwilligen Schauspielerinnen“ im Schlepptau, um jenseits vom Bühnenraum einen anderen, realeren Ort für die Erzählung seiner Geschichte aufzusuchen. Die fünf Mütter bleiben zurück, schlüpfen in die Rolle des verlorenen Sohns, und auf der Bühne entfaltet sich ein überspitzter Märchenkosmos.

Caroline Junghans wird in Sekundenschnelle giftgrün eingesalbt mit schlecht sitzendem Flausenhaar zur naiven Trollprinzessin, die Birgit Unterweger als Peer Gynt im gelb gedämpften Licht verführt. Svenja Liesau stirbt als Hochzeitsbraten. Im Stroboskoplicht verwandeln sich Nathalie Thiede und Julischka Eichel zu grau beschlammten Fabelwesen. Unweit davon erzählt Edgar Selge im Foyer dieselbe Geschichte mit anderen Mitteln. Statt die märchenhafte Illusion einer Wirklichkeit auf der Bühne zu erschaffen, findet seine Version außerhalb des Bühnenraums mit realen Personen statt mit Schauspielern in Rollen statt.

Nutzt man die Realität als Bühne, um Geschichten zu erzählen, oder erschafft man auf der Bühne einen abgeschlossenen Raum für Fiktion? Oder verheiratet man am besten beide Formen miteinander? Symbolisch hält ein Männerchor mit Brautschleiern und den entführten Zuschauerinnen im Arm Einzug ins Trollreich. Peer Gynt, alias das Theater, stürzt in eine tiefe Sinnkrise zwischen klassischer Erzählung à la Trollwelt und postmoderner Dekonstruktion.

Schluss mit dem Bühnenzauber. Die Mütter sterben poetische zehn Minuten lang, in denen man ein letztes Mal spürt, wie Luftschlösser, mit leuchtenden Augen herbeifantasiert, einen wegtragen aus der realen Leere.

Peer Gynt stirbt zugunsten vieler neuer Erzählungen

Denn mehr als Leere bleibt trotz des Frachtcontainers nicht, der, auf die Bühne gerollt, auseinanderfällt und einen Berg Kisten offenbart, in denen immer ein anderer Scheinwerfer steckt. Angestrahlt denken sich die fünf Frauen neue Mythen über Peer Gynt als Entwicklungshelfer, Waljäger oder Hacker aus. Spätestens jetzt ist alles gesagt. Das Theater, das seine eigene Geschichte zu überwinden versucht, um zu finden, was dahinter liegt, reproduziert sich gnadenlos selbst. Der Kern ist immer nur Blendlicht, in dem inszeniert werden kann.

Ibsens Peer Gynt stirbt zugunsten vieler neuer Erzählungen, in die auch das Publikum involviert ist. Peer Gynt, träumt eine Zuschauerin ins herumgereichte Mikro, ist Berliner Schwabe mit Heimweh nach Brezeln. Schließlich steht Edgar Selge wieder auf der Bühne, erschlagen von den hundert beliebigen Versionen seiner Geschichte: „Ich war Nero, Jesus, Rotkäppchen, Hitler und Stauffenberg.“

Was bleibt, ist der Eindruck eines Theaterabends, der wie die Pubertät ein Übergangsstadium beschreibt. Man will es anders machen als die Vorgänger, aber der Weg scheint unendlich lang und kreist in schmerzhafter Selbstbezüglichkeit um das eigene Sein. Da muss man durch, aber vielleicht nicht auf der Bühne.

Nochmals am 29. Juni und am 2., 10., 17. Juli. Karten: 07 11 / 20 20 90