Jürgen Trittin spricht auf dem Bundesparteitag der Grünen in Münster. Foto: dpa

Die Grünen besinnen sich bei ihrem Parteitag in Münster auf alte Werte – und schaffen sich selbst neue Probleme.

Münster - Wenn die Grünen beim Parteitag ganz nah an ihrem Herzen und der ökologischen Zukunft zugewandt sind, dann jubeln sie Rednern wie ihrem grünen Umweltexperten Oliver Krischer und dem Chef der Deutschen Umwelthilfe, Jürgen Resch, zu. Resch wirft den deutschen Autobauern illegale Manipulationen bei den Abgaswerten vor und der Politik, dass sie die Autokonzerne „durchregieren lässt“. Krischer geißelt den Diesel- Motor als das Kohlekraftwerk der deutschen Automobilindustrie. Die grünen Delegierten in der Münsterlandhalle beim Parteitag sind selig. „Da weiß man, wofür man in dieser Partei ist und wofür man kämpft“, heißt es im Saal.

Als Parteichef Cem Özdemir Minuten später den nächsten Gastredner, den Vorstandschef des Daimler-Konzerns Dieter Zetsche, ankündigt, muss er alle Rhetorik aufbieten. Mit dem Aufruf, an die Güte der eigenen Argumente zu glauben und Zetsches Besuch als Kompliment zu nehmen, dass nur mit den Grünen über die Zukunft des Automobils zu reden sei, schafft er es aber doch, den Boden zu bereiten.

Daimler-Chef Zetsche wagt sich in die Höhle des Löwen

Selbstverständlich ist das nicht. Die Co-Vorsitzende Simone Peter hat zuvor bei der Einführung in die verkehrspolitische Debatte demonstrativ Zetsches Gegenredner Jürgen Resch begrüßt, den Daimler Chef aber mit keinem Wort erwähnt. Zetsche hat sich in die Höhle des Löwen gewagt, die Buhs wollen zuerst gar nicht enden, als er in Jeans, blauem Jackett und offenem Hemd ans Mikrofon tritt. Aber der Konzernlenker nimmt es sportlich und lobt „die Energie im Saal, das macht mir Spaß“. Die ersten Lacher erntet er mit einem Twitter-Zitat: Wer Zetsche zur Verkehrspolitik reden lasse, der könne auch Trump zur Frauenpolitik einladen, sagt er. Und dass solche Bedenken der beste Beleg seien, dass man miteinander sprechen sollte.

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Zetsche macht es den Grünen schwer, ihn in die Ecke des Klimafeindes zu stellen. Dass die Autoindustrie keine Zukunft habe, wenn ihre Motoren weiterhin CO2 produzieren, wie es in ihrem Leitantrag steht, unterschreibt er ausdrücklich. Den Pariser Klimavertrag lobt er als richtigen Weg. Für Daimler sei es das wichtigste Ziel, „so attraktive Elektroautos zu bauen, dass die Kunden sie kaufen, weil sie sie wollen – nicht weil sie sie kaufen sollen“. Zetsche fordert die Grünen auf, Feindbilder zu überwinden. „Die Transformation, die uns bevorsteht, betrifft das ganze Land. Da kann sich niemand wegducken.“

Die Partei und ihre Spitze ist verunsichert

An den Tagen zuvor präsentieren sich die Grünen bei dem Bundesdelegiertentreffen in Münster in vielem so, wie man sie lange kennt. Das beginnt schon draußen vor der Münsterlandhalle, wo „die besten Dickköpfe des Landes“ mit weniger Ironie und eher mehr Selbstidealisierung begrüßt werden. Es setzt sich in den übergroßen Lettern fort, die auf der Bühnenwand drinnen prangen: „Wir bleiben unbequem“, heißt das Parteitagsmotto. Die Parteispitze hat es ausgewählt, weil die Grünen, die nach elf Oppositionsjahren im Bundestag wieder an die Regierung drängen, gleichwohl der Selbstvergewisserung bedürfen, dass sie noch sind, wie sie sich stets gesehen haben: als Stachel im Fleisch der Etablierten, eine von ihrem Gründungsmythos als Bewegungspartei umwehte Kraft, die der Konkurrenz mit ihrem konsequent progressiv-ökologisch-emanzipiert-moralischen Anspruch mächtig auf den Geist gehen will.

Das Motto verrät, wie verunsichert die Partei und ihre Spitze ist. Ja, sie will nach der nächsten Bundestagswahl wieder an die Macht. Aber sie leidet auch daran, dass sie in den Ländern schon so viel Macht hat; denn Macht heißt Verantwortung, heißt Disziplin, heißt Realpolitik, egal ob die jeweils Regierenden sich nun den Realos oder dem linken Flügel zurechnen mögen. Einen Regierungschef und 27 Minister stellen die Grünen aktuell in der Republik. Um so weit zu kommen, um vor allem den Stuttgarter Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann über den Wahltag im Frühjahr hinaus an der Macht zu halten, war so viel innergrüne Disziplin nötig, dass es in den Monaten seither regelmäßig zu Scharmützeln zwischen Linken und Realos kam.

Kretschmann warnt: „Wir sind in einer sehr ernsten Situation“

Beim Parteitag wird die Entscheidung über das Steuerkonzept zum Schaukampf, bei dem der vorher latente Streit zwischen den Flügeln voll entbrennt. Stundenlang wogt die Debatte, fünf Alternativen stehen zur Wahl. Warum es bei den letzten Vorbereitungstreffen nicht wenigstens ein paar weniger geworden sind, wird der Geschäftsführer Michael Kellner morgens gefragt. „Die Antwort würde Sie verunsichern“, sagt er sarkastisch und zitiert damit den Satz, mit dem einst Innenminister Thomas de Maizière Fragen nach einem Terroranschlag abzuwehren versuchte.

Aber bei den Grünen geht es nicht um Terror, sondern nur um Symbolik. Ein konkret ausgestaltetes Steuerkonzept für Vermögen ab einer Million Euro, die die Grüne Jugend fordert, markiert das eine Ende des Spektrums. Den Verzicht auf die Vermögenssteuer, das andere. Nachdrücklich fordert Winfried Kretschmann die Delegierten auf, auf die Vermögenssteuer zu verzichten. „Wir sind in einer sehr ernsten Situation“, sagt er. Nach Donald Trumps Wahlsieg und dem Erstarken von Rechtspopulisten in vielen Ländern müssten die Grünen nicht nur der Gegenpol zu Engstirnigkeit und Nationalismus sein, sondern wegen des sozialen Sprengstoffs auch verstärkt an Arbeitsplätze denken. „Es ist der falsche Weg, in die Vermögenssteuer zu gehen. Als Ministerpräsident von Baden-Württemberg trage ich die Verantwortung für die mittelständische Wirtschaft. Was passiert, wenn wir in Arbeitslosigkeit hineinkommen – da wird mir angst und bange.“

Am Ende zählen nur die Schlüsselworte „Vermögenssteuer“ und „Superreiche“

Doch Jürgen Trittin, der in den vergangenen Wochen bei jeder Kretschmann-Äußerung verbal gegenhielt, gelingt in Münster in nur drei Minuten ein Triumph. „Ein Land, in dem Raucher doppelt so viel zur Finanzierung der Staatsausgaben beitragen wie die Vermögenden – das ist einfach nicht gerecht“. Arbeitsplätze sieht Trittin auch nicht gefährdet, und der Saal tobt. Am Ende entscheiden die Grünen eine Vermögenssteuer für Superreiche ins Wahlprogramm aufzunehmen, die „verfassungsfest, ergiebig und umsetzbar“ sein und Arbeitsplätze sowie die Innovationskraft der Unternehmen erhalten soll. Dass reihenweise grüne Finanzpolitiker und -minister aufgetreten sind, die dies für die Quadratur des Kreises und damit für unmöglich halten, spielt keine Rolle. Am Ende zählen nur die Schlüsselworte „Vermögenssteuer“ und „Superreiche“: Die Links-Partei wird sich freuen – ein so deutliches Signal der Offenheit für Rot-Rot-Grün gab es bisher nicht.

Aber ob die beiden Reizworte, mit denen die Grünen ihre Aufmüpfigkeit gegenüber den Vermögenden unter Beweis stellen wollen, die richtigen Anreize bei jenen Wählern setzen, die eliten- und demokratieverdrossen den AfD-Politiker Jörg Meuthen mit seiner hasserfüllten Absage an das „rot-grün versiffte Milieu“ der Bundesrepublik zum Oppositionsführer in Baden-Württemberg machten? Ob es das richtige Zeichen ist, nachdem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde und auch anderswo Demokratieverdruss und Populismus immer weiter auf dem Vormarsch sind?

Die Grünen habe es sich ganz schön bequem gemacht

Bastian Hermisson, der Chef des Washingtoner Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, würde diese Frage sicher verneinen. „Wacht auf! Es ist wahrhaft eine Zeitenwende“, rief er mit Blick auf Trumps Wahlsieg und die Folgen. Die Grünen seien heute selbst Teil der Eliten, die viele Menschen verachteten. Sie müssten deshalb raus aus ihrer Blase und raus aus den Echo-Kammern bei Facebook und anderen Internet-Communities.

Viele Redner haben das Thema aufgenommen, auch Winfried Kretschmann, der bekannte, dass er sich nicht mehr habe vorstellen können, dass der liberale Verfassungsstaat noch einmal verteidigt werden müsse. Immerhin die Auseinandersetzung mit Dieter Zetsche haben sie ertragen. Der Leitantrag zum Verkehr wurde mit dem Vorziehen des Kohleausstiegs gleichwohl verschärft und das Ende des Verbrennungsmotors auf 2030 festgelegt. Mit der Unbequemlichkeit, die ihnen an sich selbst so gut gefällt, haben die Grünen es sich ganz schön bequem gemacht.