Die Kinder haben schnell geschnallt, dass man die Sitzhocker aus dem Parklet herausnehmen und damit Mauern oder Liegen bauen kann. Foto: Kathrin Wesely

Seit vergangener Woche stehen temporär elf Aufbauten in der Innenstadt, die je zwei bis drei Parkplätze belegen. Mancher kritisiert, dass dies den Parkdruck weiter erhöhe. Andere sind begeistert, dass die Straße nicht mehr nur den Autos gehört – zumindest partiell.

S-Süd - Während sich im Internet wütende Gegner der Parklets Luft machen, saugen deren Befürworter auf dem Sitz-Parklet in der Tübinger Straße die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf. Der stufenförmige Holzbau ist seit vergangener Woche vor der Gaststätte Galao aufgebaut. Schätzungsweise zweieinhalb Parkplätze belegt er. Er ist einer der elf Parklets, die bis Ende September am Straßenrand stehen und den Leuten eine alternative Nutzung offerieren.

„Mich hat dieses anonyme Gemecker im Internet aufgeregt“, sagt Martin Zentner von den Stadtisten. Deshalb hat sein Verein auf Facebook für Mittwochabend zu einem Austausch von Angesicht zu Angesicht auf das Parklet in der Tübinger Straße geladen. Aber jetzt kommt keiner, der Parklets blöd findet. „Haben wahrscheinlich hier keinen Parkplatz gefunden, sind wieder heimgefahren“, frotzelt einer vom Podest runter. Einstweilen füllen sich die gezimmerten Sitzstufen mit Befürwortern, die nun darüber diskutieren, warum das Projekt im Internet so leidenschaftliche Gegner findet. „Da geht’s nicht um den einzelnen Stellplatz, der wegfällt, sondern ums Prinzip“, ist man sich einig. Die Parklets seien ein frontaler Angriff auf die eingefleischte Autokultur in einer Stadt, die seit der Erfindung des Automobils von dieser Technik geprägt sei.

Take-Away-Hocker

Inzwischen haben die mitgebrachten Kinder herausgefunden, dass man die Papphocker, die in den Hohlräumen unter den Sitzstufen stecken, herausnehmen und wegtragen kann. Einige Erwachsene machen es nach, klemmen sich die Hocker unter die Arme und entschwinden Richtung Marienplatz.

Genau so war das von Fin Lasse Oldach auch gedacht, dem Planer, Erfinder und Erbauer des Parklets Tübinger Straße 90. Die Papphocker sind da, weil es auf dem Marienplatz zu wenig öffentliche Sitzgelegenheiten gibt. Bislang hatte die Hocker keiner bemerkt, obwohl das Sitzpodest selbst gut angenommen wird. Oft ist es schon am Nachmittag bevölkert, sagen die Chefs des Galao. Marcel Brucker und Reiner Bocka fanden die Parklet-Idee sofort charmant als einer der Studenten vom Projekt bei ihnen anfragte, ob sie die Patenschaft dafür übernehmen wollten. Das hat sie ein bisschen Strom gekostet, sie haben Lagerfläche zur Verfügung gestellt und gießen jetzt die Pflanzentöpfe auf dem Podest. Außerdem stiftet das Café die Papphocker. „Was wir brauchen, sind nicht mehr Parkplätze, sondern mehr Flächen zum Leben“, sagt Bocka. Doch in der Nachbarschaft sei das temporäre Bauwerk auf wenig Sympathie gestoßen. Es wurde gemutmaßt, dass sich das bei jungen Leuten beliebte Bistro Galao allmählich amöb über den ganzen Straßenraum ausbreiten wolle. Bocka winkt ab: „Fremdgetränke sind auf dem Parklet ausdrücklich erwünscht. Das ist öffentlicher Raum! Wir bewirten da gar nicht.“

Stuttgart auf Durchzug

Fin Lasse Oldach hält die Tübinger Straße dennoch für ein äußerst günstiges Biotop für ein Parklet. Der Architekturstudent hat den Standort vorab eingehend analysiert – die soziale Mischung, die Altersstruktur der Passanten, aber auch die Lichtverhältnisse dokumentiert. Die Gegend um den Marienplatz beherrsche ein überwiegend junges, alternatives Milieu, das nicht mit dem Auto anrückt. „Es gibt Standorte im Westen mit hohem Parkdruck, da ist die Akzeptanz der Parklets nicht so groß.“ Doch gerade an den rastlosen, transistorischen Punkten in der Stadt bräuchte es mehr Ruhezonen und Sitzgelegenheiten, meint der Exilant aus Hamburg: „Hier in Stuttgart wirkt alles enger als in Hamburg, und es gibt hier auch viel weniger Aufenthaltsorte. In Stuttgart ist vieles so auf Durchzug. “

Wer und was steckt hinter den Parklets?

Stuttgart ist der bedeutendste Automobilcluster Europas. Mehr als 30 Prozent aller Beschäftigten in der Region arbeiten in der Branche, sie stiftet Identität. Auch das städtebauliche Leitbild Stuttgarts orientierte sich über Jahrzehnte am Auto. Heute weiß man um die negativen Folgen – Staus, Luftverschmutzung, Platzverbrauch. Es herrscht weitgehend gesellschaftlicher Konsens darüber, dass der Verkehr nicht ungebremst weiterrollen kann wie bisher. Nachhaltige Mobilität ist gefragt. Hier setzt das „Future City-Lab Stuttgart – Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur“ an.

Die Stadt als Reallabor

An der Universität Stuttgart werden seit Januar 2015 mit dem auf drei Jahre angelegten Forschungsprojekt „Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur“ neue Formen des Wissenstransfers erprobt. Zusammen mit Reallaboren an sechs weiteren Hochschulen in Baden-Württemberg gehört das Stuttgarter Labor zu den geförderten Projekten des Landesprogramms „Stärkung des Beitrags der Wissenschaft für eine nachhaltige Entwicklung“. Im Reallabor arbeiten nicht nur unterschiedliche wissenschaftliche Bereiche wie etwa Sport, Kultur, Technik oder Städtebau zusammen. Das Herzstück dieser modernen Art der Forschung ist die Beteiligung der Bürger: Es wird nicht über sie geforscht, sondern mit ihnen. Mit im Boot ist außerdem die Stadtverwaltung, beispielsweise das Ordnungsamt, das die nötigen Parkplätze für die Parklets freigibt. Gemeinsame Aufgabe ist es, Veränderungsprozesse in der Stadt in Gang zu bringen und auszuwerten. Konkrete, realitätserprobte Mobilitätskonzepte sollen daraus hervorgehen.

Eingriffe in den Raum


Die Experimente in den Reallabors sind Eingriffe in den Stadtraum, deren Wirkung untersucht wird. Das Parklet-Projekt – also die Umnutzung von Parkplätzen, ist nur eines von sechs Projekten in der Stadt. Weitere sind die Stäffele-Galerie, der Verkehrshotspot Marienhospital, die Bürger-Rikscha, das freie Lastenfahrrad und die Radel-App.

Ziele
Die beteiligten Forscher, die Stadt und die Bürger, die ihre Projektideen verwirklichen oder auch nur die Patenschaft für ein bestehendes Projekt übernehmen, suchen die Antwort auf die Frage: Wie lässt sich das Bedürfnis und das Recht des Einzelnen auf Mobilität so umsetzen, dass auch nachfolgende Generationen eine lebenswerte Umwelt vorfinden? Dabei geht es vornehmlich nicht um die technische oder verkehrliche Machbarkeit, sondern um eine Mobilitätskultur, die insgesamt mehr Aufenthalts- und damit Lebensqualität in der Stadt schafft.