Die Albertville-Realschule war im März 2009 Schauplatz des Amoklaufs in Winnenden. Foto: Stoppel/Archiv

Ein Jugendlicher erschießt wahllos Menschen, ein Gewaltexzess bricht ohne Vorwarnung über sie herein, am Schluss bringt sich der Täter selbst um. Ähnlichkeiten zwischen dem Amoklauf von München und dem von Winnenden drängen sich auf.

Winnenden - Die Erinnerung an das Massaker von Winnenden und Wendlingen drängte sich sofort auf, nachdem am Freitag die ersten Details des Amoklaufs von München bekannt wurden. Am 11. März 2009 um 9.33 Uhr begann der 17-jährige Tim K. in der Winnender Albertville-Realschulezu schießen. In zwei Klassenräumen, im Treppenhaus und in einem Chemieraum tötete er zwölf Menschen, neun wurden schwer verletzt. Auf seiner anschließenden Flucht erschoss er einen Gärtner des benachbarten psychiatrischen Krankenhauses und in Wendlingen bei Esslingen zwei Männer in einem Autohaus, bevor er sich nach einer Schießerei mit der Polizei selbst mit der Tatwaffe tötete.

In beiden Fällen sind unauffällige junge Männer die Täter, die Opfer überwiegend Jugendliche oder sogar Kinder. Beide hatten Schwierigkeiten in der Schule, beide hatten psychische Probleme. So wandte sich Tim K. an seine Eltern und berichtete ihnen von Tötungsfantasien. Trotzdem ging sein Vater, ein Sportschütze, weiter mit ihm auf den Schießstand. Die Tatwaffe, eine großkalibrige Pistole, bewahrte der Vater in einem Wäscheschrank auf, was der Sohn wusste und sie an sich nahm.

„Kommen Sie schnell, hier wird geschossen!“

Die Tat geschieht ohne jede Vorwarnung. Noch am Abend zuvor verhielt sich der 17-Jährige völlig unauffällig. Am Morgen verlässt er sein Elternhaus in einem Nachbarort Winnendens und fährt wahrscheinlich mit dem Bus in die Nähe seiner ehemaligen Schule. Diese betritt er, während die Klassen im Unterricht sind, geht in den ersten Stock, betritt das erste Klassenzimmer und beginnt wortlos auf die Schüler zu schießen, die der Tür am nächsten sitzen.

Einer der Schüler ruft mit seinem Handy bei der Polizei an: „Kommen Sie schnell, da wird geschossen!“ Dieser Satz geht dem damaligen Leiter des Polizeireviers nicht mehr aus dem Sinn. Drei Minuten später sind er und zwei weitere Polizisten an der Schule, wie es der Zufall will, wurden alle drei erst kurz zuvor für solche Einsätze geschult. Während der Revierleiter im Wagen am Funk bleibt und die Fenster im ersten Stock der Schule im Auge behält, stürmen seine Kollegen ins Gebäude. Am oberen Treppenende sehen sie den jugendliche Täter, der sofort auf sie schießt. Ein Projektil verfehlt einen der Beamten so knapp, dass er den Luftzug spüren kann.

Die Altstadt wirkt während der Suche nach dem Täter wie ausgestorben

In dem großen, unübersichtlichen Gebäudetrakt, der Teil eines Bildungszentrums mit mehreren Schulen ist, gelingt es dem 17-Jährigen ins Freie zu fliehen. Zuerst verliert sich seine Spur, die Polizei nimmt an, er sei in das nahegelegene Ortszentrum gelaufen. In Winnenden werden sofort sämtliche öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Kindertagesstätten und auch das Rathaus abgeschlossen. Die Polizei räumt die Straßen, fordert jeden Passanten auf, sofort von der Straße in ein Gebäude zu gehen. Die Altstadt wirkt wie ausgestorben, die Menschen, die etwa im Rathausfoyer stehen, sind angespannt. Jeden Augenblick könnten Schüsse fallen – doch der Täter ist bereits aus der Stadt verschwunden.

Er hat einen Autofahrer, der vor der Klinik im Schloss wartete, um seine dort arbeitende Frau abzuholen, gezwungen, ihn mitzunehmen. Es beginnt eine Irrfahrt durch den Großraum Stuttgart, die schließlich in Wendlingen endet. Dort gelingt es dem Fahrer zu entkommen. Der Jugendliche geht zu Fuß weiter zu einem Autohaus in der Nähe. Dort erschießt er einen Angestellten und einen Kunden, nur weil er ihnen zufällig begegnet. So wie er auch den Gärtner im Winnender Schlosspark ermordet hat: der Mann hatte das Unglück, im falschen Moment am falschen Ort zu sein. Wenig später stellt die Polizei den Jugendlichen auf einem Parkplatz. Dort begeht er Selbstmord.

Die Folgen des Amoklaufs sind in Winnenden bis heute zu spüren

„Angst und Entsetzen, Schock und Trauer blieben von jenem Tag“, sagte der Winnender Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth während der Gedenkfeier zum siebten Jahrestag des Massakers in diesem Frühjahr. Holzwarth erinnerte daran, dass jener Tag für viele eine Zäsur im Leben darstelle. Für die Angehörigen, aber auch jene, die das Massaker als Schüler oder Lehrer miterleben mussten, teilt das Datum das Leben in ein davor und ein danach ein. „In Winnenden weiß jeder, der vom Amoklauf betroffen ist, genau, wo er an jenem Tag war, als es geschah“, sagte eine Besucherin der Trauerfeier.

Bis heute sind Nachwirkungen des Schulmassakers zu spüren, vor allem bei den Angehörigen der Getöteten und denen, welche die Gräueltat unmittelbar miterlebten. Einige sind bis heute schwer traumatisiert. Eine junge Lehrerin, die während des Amoklaufs ihre Klasse aus dem Schulgebäude in Sicherheit brachte, ist arbeitsunfähig. Die engagierte Pädagogin, die einige der verängstigten Kinder trug, erlebte ein Jahr später an einer anderen Schule einen Amok-Alarm, der sich als falscher entpuppte. Ihr Schicksal wurde in der Öffentlichkeit bekannt, da ihr das Land kein erhöhtes Unfallruhegehaltzahlen wollte und sie erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht klagte.

Eine Diagnose ist angesichts der Umstände schwierig

Die Motive des jugendlichen Täters können im Nachhinein auch von Experten nur schwer diagnostiziert werden. Da sich die meisten Amoktäter selbst töten, fehlt die wichtigste Quelle für Psychiater und Psychologen: das persönliche Gespräch mit dem Täter. Mehrere forensische Sachverständige waren beauftragt, Gutachten über den 17-Jährigen anzufertigen, zum Teil mit widersprüchlichen Ergebnissen. Zuletzt referierte der renommierte Jugendpsychiater Professor Helmut Remschmidt in diesem Frühjahr vor dem Landgericht Heilbronn als Gutachter seine Diagnose, die er aus den Angaben über Tim K. hatte. Seiner Meinung nach und auch der einiger anderer Experten, hatte der Jugendliche eine Persönlichkeitsstörung.

Die Stiftung gegen Gewalt an Schulen, die in Winnenden nach dem Amoklauf gegründet wurde, wendet sich in ihrer Arbeit gezielt gegen Mobbing. Ein Erklärungsansatz für die Tat lautet, dass Kränkungen – ob bewusst oder unbewusst – das Motiv für die Tat gewesen seien. Da narzistische Menschen sehr empfindlich sind, wäre es möglich, dass Mitschüler gar nicht gemerkt hätten, welche Reaktionen sie auslösten.