Farbenfrohe „Paquita“-Momente in München: Ensemble-Szene aus Ratmanskys-Rekonstruktion Foto: Winfried Hösl

Alexei Ratmansky hat Marius Petipas „Paquita“ für das Bayerische Staatsballett rekonstruiert. Im Münchner Nationaltheater präsentierten sich blitzblank herausgeputzte Tänze, die das ambitionierte Unternehmen des Bayerischen Staatsballetts rechtfertigen.

München - Die Szene zeigt Saragossa. Noch bevor die Aufführung im Münchner Nationaltheater beginnt, kann der Blick über eine groß angelegte Stadt schweifen, die so und doch ein bisschen anders ein gewisser Juan Battista Martínez del Mazo 1647 gemalt hat. „Paquita“ selbst spielt mehr als ein Jahrhundert später. Der Unabhängigkeitskrieg eines besetzten Spaniens ist in vollem Gange.

Gerade die Region um Saragossa, eine „Petrischale national-chauvinistischer Tendenzen und kultureller Ressentiments“, scheint als Handlungsort „eines von Nationalstolz und Hass angetriebenen Balletts“ wie geschaffen. So Marcel Behn im wie immer lesenswerten Programmbuch des Bayerischen Staatsballetts, das Aufschluss gibt über die Petipa-Preziose, die Alexei Ratmansky, einer der gefragtesten Choreografen unserer Zeit, vom Staub befreit und um die verlorenen Teile ergänzt hat.

Die Inhaltsangabe sollte man sich vor der Vorstellung nicht unbedingt zu Gemüte führen, beraubt man sich doch so eines geradezu detektivischen Entschlüsselungsreizes, der einen ganz erheblichen Unterhaltungswert des Werks darstellt. Denn Marius Petipa, der „Paquita“ 1847, ein Jahr nach der Pariser Uraufführung, erstmals im Bolschoi-Theater von St. Petersburg in einer eigenen Version vorgestellt hat, lässt das Ballett nicht einfach tanzen, wie man das aus dem überlieferten und auch in Stuttgart gelegentlich aufgeführten Grand Pas her in Erinnerung hat.

Nein, er erzählt in aller Ausführlichkeit und das mit einem Gestik-Vokabular, mit dem man sich erst mal vertraut machen muss. Da reimt sich zwar nicht unbedingt Herz auf Schmerz. Aber wenn Paquita ihrer Verliebtheit Ausdruck gibt und sich erst auf beide Schultern tippt, um sich anschließend an die rechte Seite zu fassen, ahnt man, dass es sich bei Lucien nur um einen feschen Uniformträger handeln kann, mit Epauletten samt Degen. Einen Schnurrbart hat der Waffenträger obendrein. Und reiten kann der Generalssohn offenbar auch.

So liebevoll, pointiert und dabei erheiternd ausgearbeitet, kann Pantomime manches plastisch machen, was im Tanz nicht unbedingt sichtbar wird. Vergleichbar dem Rezitativ der Oper, trägt sie die Handlung, sofern sie eine feinfühlige Formung findet wie in München. Ratmansky stellt sich dabei ganz in den Dienst der Geschichte und versucht erst gar nicht, der Rekonstruktion seinen Stempel aufzudrücken. Denn um eine Rekonstruktion handelt es sich bei dem Ballett, das im Lauf der Zeit vor allem Lücken hinterlassen hat. Dank der Notate von Nicholas Sergejew, die sich in der Harvard University erhalten haben, und anderer Quellen lassen sich die Originalkonturen wieder füllen – und wo nicht, hat sie Ratmansky ebenso gewissenhaft wie grandios ergänzt.

Das betrifft auch die Tänze, die, blitzblank herausgeputzt, die ambitionierte Unternehmung des Bayerischen Staatsballetts rechtfertigen. Hinreißend die Contredanse française im zweiten Akt mit graziösen Kopfhaltungen, die nachfolgende Gavotte bei aller Einfachheit in jeder Hinsicht erhebend mit ihren kleinen Hüpfern. Da zeigt sich, was ein Meister ist. Ratmansky hat seinen Petipa so intus, dass er sich keine Freiheiten herausnehmen muss, und entwirft eine Choreografie wie mit dem Silberstift skizziert: leichtfüßig, lebendig und lustvoll genug, um dem Ballett etwas Glaubwürdigkeit zu verleihen. Denn Unglaubliches geschieht genug – nicht zuletzt gleich zu Beginn, wenn eine Schar von Zigeunern ausgerechnet auf einer Totenfeier auftanzt, als wär’s ein Fest der Freude.

Immerhin kommt so Paquita zum Zug, ein entzückendes Waisenkind, das von den Sinti oder Roma als eine der Ihren aufgenommen wurde. Längst hat der Anführer der Sippe ein Auge auf die Schöne geworfen, und als die sich in Lucien verliebt, ist der dramatische Knoten geschürzt. Anders als in „Giselle“ löst sich am Ende alles in Wohlgefallen auf, und nicht nur im Grand Pas kann Daria Sukhorukova in der Titelrolle so punkten, dass es dem Publikum gefällt. Auch Tigran Mikayelyan begeistert als Lucien, von Katharina Markowskaja, Javier Amo und Mai Kono ganz zu schweigen, die bereits im Pas de trois des ersten Aktes ein Maß der Virtuosität vorgeben, das an dem Abend nicht immer eingelöst wird. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, denn diese Rarität wird sich, von Jérôme Kaplan empire-elegant ausgestaltet, im Repertoire halten können. Und das allein ist schon alle Anstrengung wert.

Weitere Aufführungen am 18. und 30. Dezember, am 2., 8., 9. und 11. Januar sowie bis zum 4. Juli