Papst Franziskus präsentiert seine „Freude der Liebe“ Foto: KNA

Das lang erwartete Papier „Freude der Liebe“ von Papst Franziskus wird als Prüfstein für seine Reformfähigkeit gewertet. Der Argentinier zeigt sich darin als praktischer Seelsorger, dem nichts Menschliches fremd ist.

Rom - „Wenn zur Essenszeit jeder mit seinem Mobiltelefon herumspielt . . .“ – Papst Franziskus hat am Freitag sein lang erwartetes, ja sogar als Prüfstein für die Reformfähigkeit seines Pontifikats bezeichnetes Papier zum Ehe- und Familienleben herausgegeben – und Sätze wie der eingangs Zitierte zeigen, dass in „Amoris Laetitia“, der „Freude der Liebe“, tatsächlich ein neuer Ton herrscht. „Bodenhaftung“ hat sich Franziskus vorgenommen; “unbefangen” will er die kirchliche Lehre vertiefen; „begrenzten Menschen“ will er nicht die „gewaltige Last aufladen“, ein theologisch-ideales Familienbild in vollkommener Weise zu leben; von einer „kalten Schreibtischmoral gerade bei den heikelsten Themen“ will er weg, und seinen Mitbischöfen rät er, „nicht moralische Gesetze so anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft.“

Wer da in „Amoris Laetitia” schreibt, der schreibt nicht wie ein Kleriker, sondern wie ein Profi im praktischen Familienleben, oder zumindest wie ein Pfarrer, dem aus lebenslangem Zuhören in praktischer Seelsorge nichts Menschliches fremd ist. Franziskus wendet sich ab von den hergebrachten kirchlichen, nur „Energie verbrauchenden Angriffen auf eine verfallende Welt.“ Er klagt nicht. So positiv gestimmt, wie er anfängt – „Trotz vieler Anzeichen einer Krise bleibt vor allem unter den Jugendlichen der Wunsch nach einer Familie lebendig. Das bestärkt die Kirche.” –, so zieht er die im Deutschen gut 300 Druckseiten durch.

Der Kuss am Morgen

So neu, so werbend, so positiv wollten auch viele von jenen Bischöfen, die der Papst 2014 und 2015 zu zwei Synoden in den Vatikan gerufen hatte, die im Bereich Ehe- und Sexualmoral betonierte katholische Lehre dargestellt sehen. Geschafft hat dies bisher nur Franziskus – unter anderem in einer Art Ehe-Ratgeber, in dem er, ohne je in populären Kitsch abzurutschen, zur Festigung der Partnerschaft den Kuss am Morgen ebenso anrät wird wie die ganz banale Höflichkeit des Alltags: „Vergesst nie die drei Schlüsselworte: Darf ich?, Danke!, Entschuldige!“

Der Eheratgeber geht bis hin zu Formulierungen wie: „Gott liebt das frohe Genießen seiner Kinder.“ Da sind Leidenschaft, Erotik, Sexualität ausdrücklich eingeschlossen. Nur jene in der Ehe natürlich, von Sex außerhalb spricht dieser Papst nicht. Ein Kunstgriff. So muss er auch nichts verdammen. Verurteilen will Franziskus ohnehin nicht; die menschlichen Lebenssituationen sind ihm zu komplex für eine Schwarz-Weiß-Betrachtung von oben herab. „Eingliedern” will er in die Kirche, und zwar alle Menschen: „Jesus selbst stellt sich als Hirt von 100 Schafen dar, nicht von 99.” Der Papst ruft durchweg zur „Unterscheidung” auf, zum sehr genauen Hinsehen, und zum barmherzigen „Öffnen des Herzens“. Auch er will zwar die kirchliche Morallehre „unverkürzt vorlegen“, jede „Lauheit wäre ein Mangel an Treue gegenüber dem Evangelium.” Als die „übelste Weise, das Evangelium zu verwässern”, betrachtet Franziskus aber die durch ein Übermaß an Vorschriften bewirkte „Aushöhlung der Barmherzigkeit”. Er sagt: „Ich verstehe diejenigen, die eine unerbittlichere Pastoral vorziehen, die keinen Anlass zu irgendeiner Verwirrung gibt. Doch ich glaube ehrlich, dass Jesus Christus eine Kirche möchte, die achtsam ist gegenüber dem Guten, das der Heilige Geist inmitten der Schwachheit und Hinfälligkeit verbreitet.“ In diesem Sinne nimmt sich der Papst auch die heikelsten theologischen Brocken vor, für deren Weiterentwicklung es bei den Bischofssynoden nur eine hauchdünne und bis heute erbittert bekämpfte Mehrheit gab.

Keine allgemeine kirchenrechtliche Regelunge

Am kategorischen Kommunionsverbot für unverheiratet zusammenlebende Partner, wie es noch Johannes Paul II. ausgesprochen hatte, konnte Franziskus schon vorbeigehen; das hat sich in den seither vergangenen 35 Jahren durch die gesellschaftliche Entwicklung auch für die Kirche von selber erledigt. In der heute ungleich heikleren Frage nach der Spendung der Sakramente für wiederverheiratete Geschiedene geht Franziskus, auch wenn er sich dabei nicht leicht tut, einen – seinen – entschiedenen Schritt voran, über die Zaghaftigkeit der tief gespaltenen Bischofssynode hinaus. Eine allgemeine kirchenrechtliche Regelung, sagt er zwar, könne es „aufgrund der zahllosen Unterschiede der konkreten Situationen nicht geben“; leichtfertige pastorale Rabatte ebenso wenig.

Aber nicht immer sei die Schuld an einer misslichen Situation dem jeweiligen Fragenden anzulasten. In einem individuellen, vom Seelsorger begleiteten „Weg der Unterscheidung“, mit „Gewissenserforschung, Nachdenken, Reue“ und aufgrund „mildernder Umstände“ sei „mitten in einer objektiven Situation der Sünde“ auch ein „Wachstum im Leben der Gnade“ möglich, „wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt.“

Hat die Bischofssynode nur diesen – vom deutschen Kardinal Walter Kasper skizzierten – „Weg der Buße“ beschrieben, das Ziel aber offen gelassen, so fügt Franziskus von sich aus den entscheidenden Satz hinzu: „In gewissen Fällen könnte es auch die Hilfe der Sakramente sein.“ Damit ist in individuellen Fällen für wiederverheiratete Geschiedene der Weg zu Beichte und Kommunion offen, ohne dass sie – wie Johannes Paul II. das kategorisch verlangt hatte – „wie Geschwister“ zusammenleben. So etwas ist laut Franziskus nicht nur lebensfremd. Das „Fehlen der Intimität” könnte auch die „Treue in Gefahr geraten“ lassen – und damit wäre für ihn auch die neue Verbindung zum Scheitern verurteilt.

Einvernehmlicher Dialog zwischen Eheleuten

In „Amoris Laetizia” verstecken sich weitere Revolutionen: Gewiss verlangt der Katechismus der Katholischen Kirche weiterhin, dass jeder „eheliche Akt offen für das Leben“ sein muss, bei Franziskus klingt anderes mit durch: Sicher dürfe Liebe sich nicht in sich selber abschließen; sie müsse sich fruchtbar nach außen öffnen. Aber dann: „Kein Geschlechtsakt kann diese Bedeutung bestreiten, auch wenn aus verschiedenen Gründen nicht immer tatsächlich ein neues Leben gezeugt werden kann.“ Auf die leidige Methodenfrage in der Empfängnisverhütung – Kondom ja oder nein – lässt sich Franziskus gar nicht mehr ein. Er spricht mit der Bischofssynode vom „einvernehmlichen Dialog zwischen den Eheleuten“ und von einer – danach – im „gebildeten Gewissen“ gefällten Entscheidung. Wie überhaupt Franziskus das persönliche Gewissen der einzelnen Gläubigen in einer Weise aufwertet, die es in der praktischen Umsetzung wohlformulierter Lehre so bisher nicht gegeben hat. Nicht alles müsse das Lehramt vorgeben, sagt er. Und: „Das Gewissen der Menschen muss besser in den Umgang der Kirche mit manchen Situationen einbezogen werden, die objektiv unsere Auffassung der Ehe nicht verwirklichen.“

Nur bei den Homosexuellen bleibt Franziskus vage. Schon die Bischofssynode hatte keinen Schritt über den Katechismus hinausmachen wollen, der von zwar von „Achtung, Mitgefühl und Takt“ spricht, aber nur vor „ungerechter“ Zurücksetzung Homosexueller warnt und ihnen „Keuschheit“ vorschreibt (auf letzteres immerhin hatten die Bischöfe verzichtet). Franziskus bleibt da stehen. Er verlangt nur „Hilfe“ von Seiten der Kirche, dass Schwule „den Willen Gottes in ihrem Leben begreifen und ganz erfüllen.“ Was immer dieser Wille ist. Partnerschaften à la Ehe sind es nach der Auffassung der Bischöfe jedenfalls nicht. Und Franziskus zitiert da nur die Synode. Selber sagt er nichts.