Bernd Lingelbach und der Beuchet-Stuhl: alles echt, aber eben auch alles eine Frage der Perspektive. Foto: Lingelbachs Scheune/Silke Sage

Kugeln rollen bergauf, Kinder gehen die Wände hoch, und die Schwerkraft wird ausgehebelt: In Lingelbachs Scheune ist nur das Allerwenigste so, wie es zu sein scheint.

Abtsgmünd - Für Oma Luise ist es eine goldene Regel gewesen: „Glaube nur das, was du mit deinen eigenen Augen siehst“, so hat sie immer gepredigt. Nach einem Besuch in Lingelbachs Scheune hätte die gottesgläubige Frau ihr elftes Gebot allerdings über den Haufen schmeißen müssen, denn was es dort zu sehen gibt, ist unglaublich, obwohl – oder gerade weil – man es mit den eigenen Augen sieht. „Optische Phänomene“, so nennt Bernd Lingelbach, was seine Gäste an ihrer Seh- und mithin auch an ihrer Sinneskraft zweifeln lässt. Der emeritierte Professor, der an der Hochschule Aalen im Studiengang Augenoptik das Fach Wahrnehmung unterrichtet hat, warnt deshalb gleich zu Beginn einer Führung durch sein Domizil: „Man sollte niemals das glauben, was man sieht.“

Noch gibt es unter den Besuchern – an diesem Tag sind es Kunden der Göppinger Kreissparkasse – angesichts dieser Aussage zweifelnde Blicke und ein ungläubiges Murren. Doch bereits nach dem ersten simplen Experiment erschließt sich, was der 74-Jährige meint. Noch ehe es ein Schlückchen Sekt gibt, bekommt jeder eine Agraffe in die Hand gedrückt. Das sind just diese Drahtteile, mit denen die Schaumweinflaschen für gewöhnlich verschlossen sind. „Halten Sie diese mit dem gestreckten Arm vor eines ihrer Augen“, fordert Lingelbach. Und tatsächlich: Plötzlich scheint sich die Position des kleinen Metalldeckels zu verändern. Er tritt in den Vordergrund, tauscht also mit dem Drahtgeflecht seinen Platz und wird auf einmal durchsichtig. „Die Netzhaut ist ein Display und zeichnet ein flaches Bild von einer räumlichen Welt, was zu dieser Irritation führt“, erklärt er.

Nach dieser billigen Täuschung geht es nur unwesentlich teurer weiter. 3-D- und Prismenbrillen kommen ins Spiel: Oben wird zu unten, rechts wird zu links. Auf einer Leinwand bewegen sich unterschiedliche Gegenstände. Die Kugel mutiert zum Zeppelin, der Würfel verwandelt sich in eine Raute, und die Puppe, die auf einen zuschwebt, scheint man auf einmal mit Händen greifen zu können. „Das Gehirn ist stur, macht Fehler und bleibt dabei. Das heißt, dass wir unserer Wahrnehmung ausgeliefert sind, auch wenn sie falsch ist“, sagt Lingelbach. Hinzu komme, dass der Mensch Rechts- oder Linksäuger sei. „Es ist allerdings sehr schwierig, das Auge umzuschulen. Da macht man leichter aus einem Rechts- einen Linkshänder“, fügt der Wissenschaftler hinzu.

Schmollt oder strahlt die Kanzlerin?

Ganz egal indes, ob Rechts- oder Linksäuger, wirkliche Erholungspausen für das Sehorgan gibt es so gut wie keine in der ebenso idyllisch wie versteckt gelegenen Scheune in Leinroden, einem Ortsteil von Abtsgmünd im Ostalbkreis. Vor 20 Jahren hat dort alles angefangen. Die aufwendigen Diplomarbeiten im Studiengang Augenoptik sollten nicht einfach in einem Keller der Aalener Hochschule verschwinden, dachte sich ein Student – und stieß mit der Idee bei Professor Lingelbach auf offene Ohren. In der alten Scheuer entstand als erstes Objekt der Ames-Raum. Dieser wirkt wie ein normales Zimmer. Doch weil Wände, Boden und Decke nicht rechtwinklig gestaltet, sondern stark verzerrt sind, wachsen und schrumpfen Menschen, je nachdem, wo sie sich in dem Zimmer aufhalten, für die Betrachter zu Riesen oder zu Zwergen.

Inzwischen ist der Fundus in Lingelbachs Scheune allerdings schier unerschöpflich. Kein Winkel, in dem es nicht irgendetwas zu entdecken gibt. Auf einem Wahlplakat schmollt die Bundeskanzlerin in gewohnter Manier, um nur eine 180-Grad-Drehung später als Strahle-Angie ihr freundlichstes Gesicht zu zeigen. Dem amtierenden EU-Finanzkommissar ergeht es ähnlich. Solange er kopfsteht, lacht der Günther. Um, als Oettinger in Normalposition, eine diabolische Fratze zu ziehen. Es ist eben alles eine Frage der Perspektive. In der Politik offensichtlich ebenso wie in der Kunst, was beim Blick auf die Mona Lisa deutlich wird oder bei den zahllosen optischen Täuschungen, denen die Besucher auf Schritt und Tritt begegnen.

Der Beuchet-Stuhl lässt die Gäste dann wieder so richtig staunen. Vom Beobachtungspunkt aus greift einmal mehr das David-und-Goliath-Prinzip, weil das Sitzmöbel aus zwei Teilen besteht, die von der Größe her eigentlich gar nicht zusammenpassen. Die Distanz zwischen den beiden Objekten, ein paar handwerkliche Kniffe und natürlich die räumliche Anordnung schaffen dabei ein weiteres Klein-und-groß-Spiel. Allen digitalen Trick- und Schnitttechniken zum Trotz werde just nach diesem Verfahren bis heute in der Filmbranche gearbeitet, beispielsweise bei „Herr der Ringe“, weiß der Gastgeber, um die Besuchergruppe im Anschluss für den weiteren Rundgang aufzuteilen.

Spider-Man im Wohnzimmer

Nun wird’s erst so richtig schräg. Bernd Lingelbachs Sohn Fabian kommt ins Spiel. Dieser studiert im richtigen Leben zwar Chemieingenieurwesen, hat aber die Leidenschaft seines Vaters für optische Besonderheiten geerbt. Es geht hinein in den schiefen Raum. Hier rollen nicht nur kleine Plastikkugeln scheinbar bergauf, man kann auch ganz bequem mit einem Stuhl auf einem Minivorsprung an der Wand sitzen, ohne herunterzufallen. Der Körper gewöhnt sich binnen Kurzem an die ungewohnte Position. Das Auge sucht allerdings fortwährend nach der Balance. „Unserem Gehirn sind solche Räume unbekannt. Es weiß nicht mehr, was waagerecht ist“, erklärt Fabian Lingelbach dieses Phänomen. Eine Abweichung von 15 Grad in der Längs- und von vier Grad in der Querrichtung mache die fortwährenden Bemühungen um Ausgleich jedoch nahezu unmöglich.

Jan und Nils Hoyler aus Uhingen, die zusammen mit ihrer Mutter Silke den Ausflug nach Leinroden mitgemacht haben, tummeln sich derweil draußen im sogenannten Wohnzimmer. Sie stehen auf der Couch problemlos Kopf, liegen quer in der Luft und telefonieren dabei oder klettern wie Spider-Man die glatte Wand hoch. „Das ist voll spannend hier und total abwechslungsreich“, sagt Nils Hoyler, während sein kleiner Bruder bereits knapp unter der Decke klebt. Die Frau Mama ist ebenfalls fasziniert: „Das ist alles sehr kurzweilig. Was ist Technik? – Was macht das Auge falsch? Es gibt viele Antworten, aber noch mehr Fragen.“

Diese Fragen versuchen Bernd und Fabian Lingelbach wenig später bei Kaffee und Kuchen zu klären. Doch auch im hübsch gestalteten Aufenthaltsraum warten weitere rätselhafte Objekte und visuelle Phänomene darauf, entdeckt zu werden. Erneut ist alles ziemlich verwirrend.

Erst draußen auf dem lauschigen Anwesen, zurück in der vermeintlichen Realität, stimmt wieder alles. Oder vielleicht doch nicht? Bernd Lingelbachs Worte klingen den Gästen selbst auf der Heimfahrt im Bus noch in den Ohren: „Man sollte niemals das glauben, was man sieht.“