Oper Stuttgart: Szene aus „Berenice“ Foto: A. T. Schaefer

Bis 2018 reichen die Verträge von Opernintendant Jossi Wieler und Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling. In der letzten Spielzeit haben beide ihren Anspruch bei „Rigoletto“, „Così fan tutte“, „Berenike“ und „Jakob Lenz“ und im gut gepflegten Repertoire nachhaltig mit Qualität unterfüttert.

Stuttgart - Es müssen nicht immer Premieren sein. Man kann in Stuttgart auch an ganz normalen Spieltagen in die Oper gehen und wird dort gute, oft sogar sehr gute Qualität auf der Bühne erleben – zumindest musikalisch. Bei den Inszenierungen im Repertoire muss man allerdings gelegentlich Abstriche machen. Manches Ältere – wie etwa die Produktionen von Rossinis „Barbier von Sevilla“ (Regie: Beat Fäh), von Webers „Freischütz“ (Regie: Achim Freyer) und von Verdis „La Traviata“ (Regie: Ruth Berghaus) – wirkt in der Punktgenauigkeit der szenischen Aktionen mittlerweile doch etwas angerostet und hat zuweilen auch in seiner Ästhetik Patina angesetzt.

Und manches Jüngere – wie etwa Rudolf Freys „Nabucco“ oder Markus Dietz’ „Luisa Miller“ - wird weiter durch die Spielzeiten geschleppt, obwohl seine Qualität dies eigentlich nicht rechtfertigt. Das sind die Kollateralschäden einer Spielplangestaltung, die man ansonsten nur begrüßen kann, denn ihr geht es um stilistische Vielfalt und um die Abdeckung zentralen Musiktheater-Repertoires ebenso wie um die Traditionslinien eines Hauses, das in der letzten Saison sogar in einer starken Neuinszenierung (Niccolò Jommellis „Berenike“) seiner barocken Vergangenheit gedacht hat.

Cambreling macht Premieren zur Chefsache

Zum Glück haben auch die schwächeren Produktionen Stärken aufseiten der Musik. Das Staatsorchester hatte eine starke Saison. Erfolgreich hat Sylvain Cambreling nicht nur die beiden Premieren von „Rigoletto“ und „Così fan tutte“, sondern auch die Wiederaufnahme von Calixto Bieitos packender „Jenufa“ sowie die Repertoirevorstellungen von „Tristan und Isolde“ zur Chefsache gemacht, und für Güte im Graben sorgten neben ihm vor allem die Dirigenten Giuliano Carella („La Traviata“, „Madama Butterfly“), Gabriele Ferro („Berenike“), Franck Ollu („Jakob Lenz“) und Marc Soustrot (bei der sehr genau wiedereinstudierten Wiederaufnahme von Stefan Herheims vielschichtigem „Rosenkavalier“). Auch der erste Kapellmeister Simon Hewett konnte bei stilistisch sehr unterschiedlichen Werken („Fledermaus“, „Nabucco“, „Chowanschtschina“) Akzente setzen.

Unter den Sängern des Ensembles überzeugten in der letzten Spielzeit besonders Ana Durlovski (Berenike, Gilda), Diana Haller (Angelina, Dorabella, Fenela, Rosina), Matthias Klink (Max, Golizyn, Eisenstein, Ismaele), Simone Schneider (Marschallin, Violetta), Lenneke Ruiten (Zerbinetta, Amour/La Folie, Sophie), Atalla Ayan (Rodolfo, Herzog von Mantua, Alfredo), André Morsch (Harlekin, Figaro, Dr. Falke, Dandini, Satyre/Cithéron) und Gergely Németi (Ferrando, Steva). Die in Zusammenarbeit mit der Hugo-Wolf-Akademie veranstalteten Liedkonzerte sorgten außerdem dafür, dass man manche Sänger in intimem Rahmen ganz neu für sich entdecken konnte. Insgesamt bewies das Leitungsteam rund um Stuttgarts Operndirektorin Eva Kleinitz nicht nur ein feines Händchen für Besetzungen, sondern holte auch immer wieder gute Gäste (wie etwa Georg Nigl als Lenz, Markus Marquardt als Rigoletto oder die unvergessene Catherine Naglestad als Cio-Cio San).

Starker Auftakt mit „Jakob Lenz“

Im Reigen der Neuinszenierungen bildete Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ einen starken Auftakt: Lange hat das Stuttgarter Opernpublikum nicht mehr so lange und laut gejubelt wie nach dem Ende von Andrea Breths stiller, sehr text- und musiknaher Inszenierung, die ihre eindringliche Wirkung auch Martin Zehetgrubers kunstvoll verzerrten und verschobenen hermetischem Raum verdankt. Im Vergleich dazu hing Andrea Moses’ mit dem Anhaltischen Theater Dessau und dem Nationaltheater Weimar koproduzierte Inszenierung von Modest Mussorgskys „Chawantschtschina“ ein ganz klein wenig durch, weil es ihr an letzter Klarheit fehlt und weil manchmal weniger mehr gewesen wäre. Starke Momente hat die Produktion in der detaillierten Bewegung und individuellen Durchdringung der Kollektive: Mit sehr genauen Details zeichnet die Regisseurin hier das Bild einer orientierungslosen Masse, die den Umgang mit Freiheit nie wirklich gelernt hat.

Von Witz und Spannung wie von klugen, wirkungsvollen Kontrasten zwischen quicken äußeren Aktionen und liebevoll eröffneten tiefen Seelenräumen lebt die Ausgrabung von Niccolò Jommellis Barockoper „Berenike, Königin von Armenien“ durch Jossi Wieler und Sergio Morabito. Dass Helene Schneiderman hier einen Soloauftritt der sängerischen und darstellerischen Extraklasse hinlegt, darf schon deshalb nicht unerwähnt bleiben, weil es einiges über die Qualität des Ensembles aussagt. Die Bühnenbildnerin Anna Viebrock spielt mit, Gabriele Ferro am Pult gibt Taten Tempo und Gefühlen Raum. Der Abend ist groß, ohne spektakulär zu wirken – ebenso wie Verdis „Rigoletto“, den der Intendant und sein Chefdramaturg ebenfalls gemeinsam inszeniert haben. Dabei tritt dem Publikum eine Titelfigur entgegen, deren Inneres ebenso deformiert ist wie ihr Äußeres: ein sehr moderner Egozentriker in einer psychologisch präzise durchdrungenen Dreierkonstellation, die Markus Marquardt, Ana Durlovski und Atalla Ayan sängerisch wie darstellerisch nachhaltig beleben.

Junge Oper mit weniger Glück

Vor der Stuttgarter Premiere von Mozarts „Così fan tutte“ mag Mancher noch nichts von Yannis Houvardas gehört haben, aber mit seiner Inszenierung hat sich der griechische Regisseur in die Herzen des Stuttgarter Publikums gespielt. Herbert Murauers tolles Bühnenbild, ein aufgeschnittenes Haus mit acht Zimmern, belebt er ständig mit wechselnden Konstellationen: Bei ihm taumeln die vier Liebenden durch eine hermetische Welt, in der alles offen liegt und gerade deshalb überhaupt nichts klar ist, und in diesem schrecklichen Spiel, in dem am Ende keiner mehr weiß, was er tun und fühlen soll, gelingt es Houvardas obendrein, die Schauspieler aus den Sängern herauszukitzeln. „Così fan tutte“ ist auch ein großer Ensemble-Abend.

Leider hatte die Junge Oper mit ihren zwei Premieren nicht annähernd so viel Glück. „Nixe“ (nach Antonin Dvoràks „Rusalka“) krankte an mangelnder Klarheit und an einer ziemlich brachial wirkenden Montage von Versatzstücken aus Dvoráks Oper mit elektronischen Geräuschen; und George Benjamins Petitesse „Into The Little Hill“ verfehlte trotz (überlanger) vorangestellter erläuternder Rezitation ihr Zielpublikum um mehrere Jahre.

Info

Der Fernsehsender Arte hat eine Aufführung von Berenike, Königin von Armenien in Stuttgart in voller Länge aufgezeichnet. Bis zum 1. Oktober ist die Oper bei Arte Concert abrufbar: www.concert.arte.tv