Stuttgarts Opernintendant Jossi Wieler Foto: dpa

Zum „Opernhaus des Jahres“ hat es für die Oper Stuttgart in dieser Saison knapp nicht gereicht – diesen Titel teilen sich die Häuser in Frankfurt und Mannheim. Dafür gingen die Auszeichnungen „Aufführung des Jahres“ und „Sänger des Jahres“ nach Stuttgart. Ein Gespräch mit Stuttgarts Opernintendant Jossi Wieler über Preise von heute und den Spielplan von morgen.

Stuttgart – Herr Wieler, im Kritiker-Ranking der Fachzeitschrift „Opernwelt“ hat die Oper Stuttgart wieder sehr gut abgeschnitten. Wie wichtig sind diese Auszeichnungen für Ihr Haus?
Sie bestätigen uns natürlich in dem, was wir tun, sind aber letztlich für die Außenwahrnehmung unseres Hauses wichtiger als für uns selbst. Denn unsere Arbeit ist ja langfristig geplant. Es ist aber toll, wenn Kritiker all das, was wir gut und wichtig finden, ebenfalls wertschätzen. Und gerade in Stuttgart war es immer schon wichtig, dass Menschen von außen sagen: Das hier ist gut. Dann fällt es einem selbst leichter, ebenfalls stolz zu sein. Vielleicht wächst so auch die Zahl derer, die von sich aus stolz auf ihre Oper sind.
2015/16 ist eine Spielzeit mit sechs Neuproduktionen und vier Gastregisseuren. Damit verstärken Sie den Kurswechsel weg von Ihrer anfänglichen Idee einer eher hermetischen „Opernwerkstatt“ , den Sie schon in der letzten Spielzeit begonnen haben. Wieso?
Die Vision von einer konzentrierten Stuttgarter Arbeit an der Oper hat uns alle sehr beflügelt, und feststellen zu müssen, dass das für einen Betrieb mit nur fünf Premieren intern und in der Außenwirkung zu „klösterlich“ ist, dass es also doch mehr Vielfalt braucht, war anfangs nicht leicht. Aber es ist so. Außerdem bedeuten bei unserer Art von Repertoiretheater zwei Inszenierungen von Sergio Morabito und mir in einer Spielzeit bereits eine sehr hohe Konzentration, und wenn wir in Stuttgart ein bestimmtes Spektrum abbilden wollen, brauchen wir auch andere künstlerische Visionen.
Wie kam die Auswahl von Regisseuren, Dirigenten und Sängern für diese Saison zustande? Wie kam es etwa zur Kombination von Christoph Marthaler mit „Hoffmanns Erzählungen“?
Mit Christoph Marthaler verbindet mich eine langjährige Arbeitsbeziehung. Seine Inszenierungsweise mit der Lust an surrealen Bildern und Figuren finde ich faszinierend, sie unterscheidet sich sehr von meiner eigenen. Und doch arbeiten wir mit derselben Bühnenbildnerin zusammen: Anna Viebrock. So gibt Marthaler in dieser Spielzeit sein Stuttgart-Debüt. Gérard Mortier, der im vergangenen Jahr verstorbene große Intendant der Madrider Oper, der beide sehr schätzte und aus früherer Zusammenarbeit kannte, hat sehr früh angefragt, ob wir uns eine Koproduktion vorstellen könnten. Es ist eine wunderbare Produktion geworden, die wir nun stolz mit den Sängerinnen und Sängern unseres Ensembles dem Stuttgarter Publikum zeigen möchten. Ana Durlovski als Olympia war übrigens schon in Madrid dabei.
Und warum „Salome“?
So, wie wir einen Bellini-Schwerpunkt, eine Verdi-Werkstatt und einen Fokus auf dem russischen Repertoire haben, wollen wir insbesondere Strauss und Wagner aus anderen, überraschenden Perspektiven wahrnehmen. Wer würde sich da besser eignen, als der zurzeit wohl spannendste Regisseur Russlands, Kyrill Serebrennikov. Sergio Morabito hatte schon vor einiger Zeit Kontakt mit ihm geknüpft und ihm die „Salome“ vorgeschlagen, die wir übrigens nahezu komplett aus dem eigenen Ensemble besetzen können: mit Simone Schneider in der Titelpartie, Matthias Klink als Herodes und mit Claudia Mahnke als Herodias, die wir mit dieser Herausforderung wieder einmal nach Stuttgart zurückholen können.
Die Idee einer Koproduktion mit dem Schauspiel hatten Sie seit Beginn Ihrer Intendanz. Warum hat das erst jetzt geklappt?
Das hat mit den Planungsvorläufen in der Oper – drei Jahre – und dem Wechsel in der Schauspielintendanz vor zwei Jahren zu tun. Jetzt haben wir das Glück, sechs Sänger unseres Opernensembles mit sieben Mitgliedern des Schauspiel-Ensembles von Armin Petras auf diese Produktion vorzubereiten – und können nach dem legendären „King Arthur“ von 1996 mal wieder zeigen, welches Potenzial in einem Dreispartenhaus wie dem unseren steckt. Mit dem Regisseur Calixto Bieito und dem Dirigenten Christian Curnyn kommt dabei wieder das Erfolgsteam von „Platée“ zusammen.
Warum dazu noch Philippe Boesmans’ Oper über Schnitzlers „Reigen“? Ein sehr freundliches Stück.
Wenn Sie das so sehen. Es ist aber auch höchst unterhaltsam, witzig, ironisch – allein schon in der Art, wie Boesmans mit den Gedankenstrichen in Arthur Schnitzlers Schauspiel umgeht. Aber unter der freundlichen Maske steckt ein wildes Tier. Die Regisseurin Nicola Hümpel wird sich ausgiebig mit dieser Reibung beschäftigen. Sylvain Cambreling hat übrigens schon die Uraufführung dieser Oper 1993 dirigiert. Und Boesmans wird im nächsten Jahr 80.
Das Stuttgarter Publikum wäre aber auch für härtere Kost zu haben.
Ja, und das finde ich toll. Selbst „Wunderzaichen“ von Mark Andre war sehr gut besucht, und die letzte Vorstellung von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ war rappelvoll. Das ist die andere Seite des Stuttgarter Publikums: Man schiebt das Neue nicht einfach weg, sondern will es beobachten, will daraus lernen und es notfalls sogar durchleiden.
Und wo ist nun Ihre Werkstatt geblieben?
Die ist noch da: bei allen laufenden Vorstellungen, im ständigen Austausch aller Beteiligten, auf den wir großen Wert legen. Außerdem haben wir ein Ensemble, aus dem heraus wir den Spielplan gestalten, um jedem zur richtigen Zeit die richtige Herausforderung zu bieten. So konnten wir jetzt „Fidelio“ fast ganz aus dem Ensemble besetzen – bis auf Michael König als Florestan, der international auftritt, aber aus Schwäbisch Gmünd kommt (lacht).
In knapp einem Monat hat Ihre Inszenierung von „Fidelio“ Premiere. Verraten Sie uns schon einmal ein paar von Ihren Ideen zum Stück? Zu Gattenliebe und Freiheit?
Wir machen das Stück mit fast allen Dialogen.
Aber Sänger sprechen doch oft so schlecht.
Mag sein, aber wir wollen der Sprache Raum und Gewicht geben. Es gibt ja Gründe, warum sie da ist. Die gesprochenen Dialoge werden sonst immer nur als Transportmittel hin zur nächsten musikalischen Nummer betrachtet. Dabei sind sie so viel mehr! Die Sprache im „Fidelio“ wird in einem totalitären System gesprochen und muss auch so verstanden werden. Die, die sprechen, sind sich ständig bewusst, dass von dritter Seite mitgehört wird. Die Bühne ist voller Mikrofone, die auch das leiseste Raunen aufnehmen und übertragen. So gewinnt die Stille neue Bedeutung. Die Stille, das Schweigen, die Gedankenstriche im Text: Sie sind wie Fermaten in der Partitur. Wenn man fragt, was diese Sprache bewusst verschweigt, dann entdeckt man ganz neue Sprachräume.
Aber Beethovens Librettisten sind nicht Kleist.
Wenn man einmal wirklich ernst nimmt, wie und warum jemand etwas sagt – und so ist diese Oper geschrieben –, dann entdeckt man, dass in „Fidelio“ die Sprache Inhalt und Form zugleich ist und nicht einfach und beliebig extrahiert werden kann. Außerdem macht uns viel Freude, das schauspielerische Potenzial von Sängern öffnen zu können.
Es geht also um einen Überwachungsstaat?
Um ein System der Unfreiheit, in dem die Wärter selbst Gefangene sind. Außerdem geht es auch um private Beziehungen und Sehnsüchte. Und wir lernen eine Figur als Leonore/Fidelio kennen, die aus Liebe zwei Jahre lang sehr viel auf sich nimmt. Als sie dann ihren Mann endlich wiedersieht, ist aus dem Revolutionär von einst ein Traumatisierter, fast schon Sedierter geworden. Leonore hingegen hat als Frau einen Weg in die Freiheit gefunden. Die Oper erzählt auch die Geschichte ihrer Emanzipation – was vor dem biedermeierlichen Hintergrund besonders stark wirkt.
Gibt es Bereiche des Repertoires, die Sie in Stuttgart erweitern oder neu erobern wollen? Zum Beispiel mit Benjamin Britten?
Überlegungen in diese Richtung gibt es. Auch das russische Repertoire reizt uns, Zeitgenössisches, und wir arbeiten beständig an der Erweiterung des Kernrepertoires.
Und Operette?
Darf es auch sein.
Welche Gründe könnten Sie dazu bringen, über 2018 hinaus in Stuttgart Opernintendant zu bleiben?
(Lacht) Wir sind in Gesprächen, aber dazu möchte ich mich heute noch nicht äußern.
Damit Sie die anstehende Zeit der Opernsanierung noch mitorganisieren können?
Bis das anfängt, wird es noch dauern. Die Sanierung ist aber wichtig. Wir hinken hier so vielen Entwicklungen hinterher: technisch, räumlich, aber auch in unserer Öffnung nach außen. Und in der Gastronomie. Bei uns stapeln sich die Lachsschnittchen für die Pausenbewirtung aus Platzmangel im Flur vor der Kostümabteilung. Vor allem aber muss das Haus attraktiver werden – auch für jüngere Menschen. Die Stufen zum Säulentempel müssen nicht weg, sie müssen nur leichter zu überwinden sein.