„Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in Frankfurt Foto: Monika Rittershaus

„Musik mit Bildern“ heißt das einzige Musiktheater-Werk des im November 80-jährigen ehemaligen Stuttgarter Kompositionsprofessors Helmut Lachenmann im Untertitel. Die Bilder, die der Regisseur Benedikt von Peter dem „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Oper Frankfurt hinzufügte, überzeugen nicht.

Wird es fressen? Trinken? Weglaufen? Im Frankfurter Opernhaus sitzt ein winzigkleines Meerschweinchen auf einer blauen Turnmatte, lässt sich von einer Videokamera filmen und hört Neue Musik: Flüstern, Wispern, Schnalzen, Singen, Atemgeräusche, Schlagzeug, tonlose Lieder und Choräle, Streichinstrumente, die mit fest gedrücktem Bogen hart am Steg gestrichen werden, gezupfte, gedämpfte Klaviersaiten, gegeneinander geriebene Styroporplatten.

Das Tierchen könnte Wuschel heißen, Hoppel oder Struppi, und es ist sehr, sehr brav – viel braver als das große aufgeblasene Riesenmädchen mit der Streichholzschachtel in der Hand, das vor dem Eingang zum Opernhaus den Zuschauern schlecht gelaunt entgegen lächelt. Während etliche Besucher während der Vorstellung den Saal verlassen, weil sie vielleicht nicht ahnten, wie neu und radikal die Geräusch-Musik von Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ auch 18 Jahre nach ihrer Uraufführung noch wirkt, bleibt das Meerschweinchen so ruhig, als würde rund um es herum Mozarts „Kleine Nachtmusik“ erklingen.

Ein Schauspieler (Michael Mendl, der mehr kann als dies) nähert sich, füttert das putzige Tier, streichelt es, hüllt es in seine Jacke, sein T-Shirt, schützt es. Vielleicht auch vor dieser Musik, die aus der Kälte kommt. Sie bibbert und friert, und zerfetzte, zersetzte Textstücke ragen aus ihr heraus wie Eiszapfen. Es ist eine Musik, die das Geschehen in packende Gesten packt wie etwa jenen langen Aufwärtsschwung in Halbtonschritten, der die Himmelfahrt des toten Kindes andeutet. Und es ist eine Musik, die Wärme verweigert – bis auf kurze Momente wie etwa jenen, in denen einem ein Bruckner-Akkord entgegenfährt und einen kurz, ganz kurz einhüllt in ein geradezu erschütterndes, schier unglaubliches Pathos.

Musik, die aus der Kälte kommt

Ansonsten herrscht in der ganzen Partitur eine eisige Atmosphäre: eben jene, an der Hans Christian Andersens kleines Märchen-Mädchen ebenso zugrunde geht wie die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, die eine Jugendfreundin des Komponisten war, die wie dieser in einem protestantischen Pfarrhaus groß wurde und die sich ebenfalls wie dieser zeitlebens auch daran abarbeitete.

Dass in Frankfurt der Komponist selbst den zwischen Andersens Märchen und einen Brief Ensslins eingebetteten Text Leonardo da Vincis vorliest, dass er selbst mit großer Genauigkeit die über einem lang ausgehaltenen Ton des Orchesters mehr- und gegenstimmig verlaufenden Textbausteine rezitiert, wirkt nicht nur sehr authentisch, sondern ausgesprochen anrührend.

Die Musik ist ganz Szene, ganz Beschreibung: eine „Musik mit Bildern“,also genau das, was der Untertitel verspricht. Die Bilder der Musik zu verdoppeln, heißt, sie zu entwerten. Deshalb ist der Grundgedanke Benedikt von Peters durchaus schlüssig: So etwas wie das Positiv zum negativ will er zeigen, also Zerbrechliches, Gefährdetes, Schutzbedürftiges, außerdem Einsamkeit – und vielleicht auch die Möglichkeit von Empathie und von Kommunikation.

Lachenmanns „Musik mit Bildern“ macht Regie überflüssig

Dass die Sache mit dem Meerschweinchen dann doch ein bisschen platt gerät und dass außerdem die Szene, die man auf einer großen Leinwand verfolgen kann, immer mal wieder so von der Musik ablenkt, wie es der Regisseur gerade nicht wollte – nun ja. Sollte es eines (weiteren) Beweises bedurft haben, dass Lachenmanns Stück wirklich eine „Musik mit Bildern“ ist und eben keine „Musik für Bilder“, dann liefert ihn diese Inszenierung, die eigentlich gar keiner braucht.

Die beiden Sopranistinnen, Christine Graham und Stuttgarts Yuko Kakuta (Michael Alber, der mit den Sängern des ChorWerks Ruhr probte, und Matthias Hermann, der dasselbe mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester tat, sorgen für weitere Stuttgarter Schützenhilfe), wandeln einher, stützen sich an der Wand ab, schreiten einmal (zum „Abendsegen“) auch gemeinsam nebeneinander her, als seien sie Humperdincks Hänsel und Gretel, die anstelle von Brotkrumen hier halt Notenblätter auf den Boden streuen. Neben dem alten Mann und dem Meerschweinchen und neben der Sho-Spielerin im Finale sorgen die beiden damit für die wenigen sichtbaren Aktionen des Abends. Weitere visuelle Akzente setzt die Projektion des durchlaufenden Märchentextes auf Bühne und Wände des Opernhauses.

Das Orchester sitzt über der Bühne auf einem Balkon; darunter sind zusätzliche Zuschauerreihen angebracht, und gemeinsam mit den Chorsängern sind die weitere Musiker außerdem im ersten und zweiten Rang untergebracht. Das sorgt für tolle Raumklangwirkungen.

Hören lernen mit Helmut Lachenmann

Schön wäre es aber auch gewesen, wenn man mehr von dem hätte sehen können, denn dann hätte man auch mehr noch hören, hätte verstehen können, warum Lachenmann, der auch strenger Hör-Lehrer sein will, die Musiker gerade nicht das machen lässt, was sie zu machen gewohnt sind, warum er Geräusche so unerbittlich seziert, bis sie schier zerfallen. Manchmal erlebt man diese Musik so, als setze einem der Komponist eine Brille auf die Ohren, sodass plötzlich alles Kleine ganz groß wirkt, und das, was aus der Entfernung glatt und schön war, erscheint nun dreckig, oft sogar fremd und bedrohlich. Wer aber Lachenmanns Ohrenbrille zu benutzen gelernt hat, beginnt die Welt um sich herum anders wahrzunehmen. Feiner, behutsamer, vielleicht auch eine Spur menschlicher.

Auch deshalb sollte „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ immer und immer wieder auf den Spielplänen der Opernhäuser stehen – allerdings nicht als Aufforderung an Regisseure. Vielleicht wäre dem Stück, das so viel mehr Oratorium ist als Oper, am meisten damit gedient, wenn man es endlich einmal unhinterfragt das sein ließe, was es ist und sein will: eine Musik, deren eigene Bilder sich selbst genug sind, die keine Interpretationshilfe durch Regisseure braucht, die an diesem Stück nur scheitern können, und die verstehen kann, wer den Klängen mit wachen Ohren lauscht.

Weitere Vorstellungen am 21., 23., 24., 26. und 27. September. Karten gibt es unter 069/ 21 24 94 94 www.oper-frankfurt.de