Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz warnt seine Partei, den Ernst der Lage zu verkennen. Foto: dpa

SPD-Vize Olaf Scholz geht mit seiner Partei hart ins Gericht. Von der Idee seines Parteichefs Martin Schulz, den Vorsitzenden künftig in einer Urwahl bestimmen zu lassen, hält er nichts. Und ein Bekenntnis zu Schulz verweigert er.

Berlin - Die SPD steckt in einer existenzbedrohenden Krise, daran lässt Parteivize Scholz keinen Zweifel. Im Interview sagt er, was zu tun ist. Und äußert sich erstmals zu seinen eigenen Ambitionen.

Herr Scholz, Sie sagen, die SPD hätte die Wahl gewinnen können, verraten Sie uns wie?
Anfang des Jahres lag die SPD kurzzeitig bei mehr als 30 Prozent. Das Potenzial für uns ist also vorhanden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen der SPD aber am Wahltag die Regierung anvertrauen wollen – die Geschicke der Außen- und Sicherheitspolitik, die Zukunft Europas, die Stabilität unserer gemeinsamen Währung. Sie müssen uns die Verantwortung dafür übertragen wollen, dass Arbeitsplätze entstehen. Wir müssen erklären, wie wir in einer komplizierter werdenden Welt mit schwierigen Staatenlenkern wie Putin, Trump oder Erdogan die Dinge zum Vorteil aller regeln wollen. Wir müssen deutlich machen, wie wir mit Flucht und Migration umgehen wollen. All das muss sich im Wahlkampf zeigen, und zwar mit ganz konkreten Vorschlägen. Das ist leider nicht hinreichend gelungen.
Woran lag es, am Spitzenkandidaten, am Programm?
Wichtiger ist mir, jetzt die richtigen Schlüsse zu ziehen. Es ist doch kein Zufall, dass die sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa schwierige Zeiten durchleben. Globalisierung und Digitalisierung verändern unsere Lebenswelt. Die wenigsten von uns können sich sicher sein, ob ein Beruf, der uns heute noch ein gutes Auskommen garantiert, dass auch in Zukunft vermag. Ein Beispiel: Alle sind fasziniert von den Möglichkeiten des autonomen Fahrens und von selbstfahrenden Trucks. Aber was bedeutet diese Entwicklung für die Lkw-Fahrer? Es ist Aufgabe der SPD, in Zeiten des Wandels eine gute und sichere Perspektive aufzuzeigen.
Man kann den Absturz mit noch mehr Sozialleistungen erträglich gestalten oder ihn durch Weiterbildung verhindern. Was ist Ihnen lieber?
Jeder muss die Chance bekommen, aufgrund seiner eigenen Leistung ein gutes Einkommen zu erzielen – das ist die moralische Mission der SPD. Wir brauchen einen gut funktionierenden Sozialstaat. Und: Auch wer 51 Jahre alt ist, muss noch die Möglichkeit haben, einen neuen Beruf zu erlernen und darauf auch einen Rechtsanspruch haben.
Vieles von dem, was Sie sagen, hat man schon im Wahlkampf gehört. Warum ist das bei den Menschen nicht angekommen?
Offenbar waren wir nicht konkret genug. Wir hätten zum Beispiel klar sagen müssen, dass wir wollen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer wieder gleich viel in die Gesetzliche Krankenversicherung einzahlen sollen. Gegenwärtig müssen Arbeitnehmer ja mehr bezahlen.
Sie sagen, es dürfe keine Ausflüchte mehr geben. Was meinen Sie damit?
Häufig gibt es nach Wahlniederlagen Scheindebatten. Da sind dann oft Ausflüchte zu hören, die die Antworten auf die richtigen Fragen verstellen. Erste Ausflucht: Wir haben nicht genügend mobilisiert. Das ist falsch. Wir haben fast 30.000 neue Mitglieder neu für die SPD gewonnen. Daran lag es also nicht. Zweite Ausflucht: Wir haben nicht genug über Gerechtigkeit gesprochen. Auch falsch. Wir haben über wenig anderes so viel geredet. Dritte Ausflucht: Weil es so viele Parteien gibt, sind 30 Prozent und mehr für uns gar nicht mehr möglich. Wieder falsch. Die Umfragen vom Jahresanfang belegen das Gegenteil. Vierte Ausflucht: Der Kandidat wurde zu spät nominiert. Auch keine überzeugende Erklärung, denn Gerhard Schröder wurde 1998 noch später zum Kanzlerkandidaten ausgerufen und war dennoch erfolgreich. Und wir dürfen jetzt nicht endlos darüber streiten, ob die Plakate gut waren. Wir haben es nicht mit einem PR-Problem zu tun. Die entscheidende Frage lautet, warum die Wählerinnen und Wähler uns am Ende nicht als Partei gesehen haben, der man die Regierung anvertrauen mag.
Ihre Antwort?
Wir müssen Vorschläge machen, die es ermöglichen, in der veränderten Welt des 21. Jahrhunderts klarzukommen. Schlagworte allein genügen nicht. Und wir müssen deutlich machen, dass es nicht nur den einen gelungenen Lebensentwurf gibt. Ein Handwerker oder eine Krankenpflegerin verdient genauso viel Anerkennung wie eine Chemieprofessorin oder ein Journalist.
Sagten Sie nicht eben, Sie wollten konkreter werden?
Gerne: Nachdem wir den Mindestlohn in der letzten Legislaturperiode durchgesetzt haben, müssen wir neu darüber diskutieren, was denn für eine Stunde Arbeit mindestens gezahlt werden soll. Meiner Ansicht nach bedeutet dies, dass jemand, der ein ganzes Berufsleben lang Vollzeit arbeitet, am Ende im Alter nicht auf öffentliche Hilfe angewiesen sein darf, selbst wenn er die ganzen Jahre nur den Mindestlohn erhalten hat. Rechnerisch bedeutet dies einen Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde. Klar ist: Das geht nicht von einem Tag auf den anderen, muss aber schrittweise gelingen, wenn wir die Gesellschaft zusammenhalten wollen.
Die Linke wird sagen: Warum nicht gleich 13 oder 14 Euro?
Es geht doch nicht um einen Überbietungswettbewerb, sondern um einen nachvollziehbaren moralischen Maßstab. In einer Zeit, in der Berufe, die lange Zeit ein gutes Auskommen ermöglichten, durch digitale Routinen verdrängt werden, muss es beim Lohn eine wirksame Absicherung nach unten geben. Dann sind übrigens die Löhne insgesamt höher.
Die Arbeitgeber werden Ihnen vorwerfen, Zehntausende Arbeitsplätze zu gefährden…
Ich kenne viele Arbeitgeber, die sich ebenfalls Gedanken um den Zusammenhalt machen und den Gedanken verstehen. Im Übrigen gab es diese düsteren Prognosen auch schon bei 8,50 Euro – eingetroffen sind sie nicht.
Sie haben auch gesagt, die SPD sei in den vergangenen Jahren zu taktisch vorgegangen. Was meinen Sie damit?
Wenn ich über einen Mindestlohn von 12 Euro rede, dann schiele ich damit nicht auf eine bestimmte Interessensgruppe, sondern argumentierte aus der Sache heraus.
Taktisch wäre es, wenn Sie dabei den linken Flügel der SPD im Blick hätten.
Zum Beispiel. Habe ich aber nicht.
Würde eine Urwahl des Parteichefs, wie sie Parteichef Martin Schulz fordert, der SPD weiterhelfen?
Wir haben eine Befragung – mehr ist parteienrechtlich nicht zulässig – schon einmal gemacht, das war 1993. Eine Befragung der Mitglieder, die den Parteitag nicht bindet, ist schon jetzt laut Satzung möglich. Das taugt aber nicht als Standardmodell. Niemand in der SPD will Verhältnisse wie in den USA.
Treten Sie im Dezember wieder für das Amt eines der stellvertretenden Vorsitzenden an?
Mein Landesverband hat mich für diese Aufgabe erneut nominiert.
Das heißt: Parteichef wollen Sie nicht werden?
Wir haben einen Parteivorsitzenden, der wieder antritt.
Die SPD soll doch konkreter werden, deshalb direkt die Frage: Halten Sie Martin Schulz noch für geeignet?
Netter Versuch. Personaldebatten über die Medien zu führen, halte ich aber für grundfalsch. Im Augenblick stehen für die SPD die strategischen und inhaltlichen Fragen im Mittelpunkt.
Und was machen Sie, wenn Jamaika scheitert.
CDU, CSU, FDP und Grüne werden eine Regierung bilden. Wenn ihnen das nicht gelingt, wäre es eine riesige Blamage für die vier beteiligten Parteien, Neuwahlen wären die Folge.