OB Wolfgang Schuster (CDU) und Boris Palmer (Grüne, rechts) im Fernseh-Wahlkampf des Jahres 2004. Dazwischen stehen SWR-Moderatorin Jaquline Stuhler und SPD-Kandidatin Ute Kumpf Foto: Kraufmann

Rathauschef wehrt sich gegen Vorwurf des Wortbruchs - bereit zu Auftritt bei Montagsdemo.

Stuttgart - OB Wolfgang Schuster sieht sich durch den Tübinger Amtskollegen Boris Palmer "diffamiert". Der Vorwurf, er habe beim Thema Bürgerentscheid zu Stuttgart 21 Wortbruch begangen, entbehre jeder Grundlage, so Schuster.

Politisch sind sich Wolfgang Schuster (CDU) und Boris Palmer (Grüne) seit Jahren in herzlicher Abneigung zugetan. Am Donnerstag hat der Stuttgarter Oberbürgermeister Schuster den Konflikt um ein weiteres Kapitel erweitert, in dem er einen Brief öffentlich machte, den er am Vortag an den Tübinger Oberbürgermeister Palmer versandt hat.

In dem Schreiben wehrt sich Schuster gegen Äußerungen von Palmer auf der sogenannten Montagsdemonstration am 23.August vor dem Hauptbahnhof. Sinngemäß sagte Palmer vor mehreren Tausend Zuhörern, dass Schuster ihm während des OB-Wahlkampfs 2004 einen Bürgerentscheid zum Bahnprojekt Stuttgart21 versprochen habe, sofern es für die Stadt Stuttgart zu Mehrkosten von mehr als 100 Millionen Euro komme. Dieses Versprechen - das Palmer als drittstärksten Kandidaten im ersten Wahlgang zum Rückzug bewog - habe der spätere Wahlsieger Schuster nicht eingehalten, kritisierte Palmer auf der Demo.

"Ihre erneute Behauptung, ich hätte einen Wortbruch begangen, entbehrt jeder Grundlage", wirft Schuster dem Tübinger Amtskollegen jetzt in seinem Brief vor: "Ich finde es befremdlich, dass Sie mich wiederholt in dieser Weise diffamieren." Schließlich sei ihnen beiden, Schuster und Palmer, bereits 2004 bekannt gewesen, dass ein Bürgerentscheid über eine Finanzierungsfrage der Kommune "nicht möglich" sei.

Schuster verwehrt sich auch gegen den Vorwurf Palmers, er betreibe "Machtmissbrauch". Die Stuttgart-21-Gegner, die 2007 ein Bürgerbegehren mit dem Ziel Bürgerentscheid gestartet hatten - und damit am Gemeinderat, an der Stadtspitze und schließlich 2009 vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart gescheitert waren - hätten nämlich "gewusst, dass dieses Bürgerbegehren rechtswidrig war" und so "die Bürger getäuscht", erklärt Schuster.

Schuster formuliert mit ungewohnter Schärfe

Als Beleg hat Schuster dem Brief an Palmer eine Pressemitteilung der Stadt Stuttgart vom 23. Juli 2007 beigefügt. In der Meldung, mit der Schuster seinerzeit darstellte , weshalb er den Bürgerentscheid weiterhin ablehnt, wird auch Palmer zitiert: "Herr Schuster ist nicht verpflichtet zu einem Bürgerentscheid, den Mut dazu wünsche ich ihm trotzdem", heißt der entscheidende Satz des Tübinger OBs. Besagte Pressemeldung habe Palmer damals akzeptiert, erinnert Schuster in seinem aktuellen Brief.

Im Juli 2007 waren für die Stadt Mehrkosten bei Stuttgart 21 in Höhe von 85 Millionen Euro aufgelaufen. Die 100-Millionen-Euro-Marke, die Schuster und Palmer 2004 vereinbart hatten, war damit nicht durchbrochen. Nach der aktuellen Kalkulation kostet Stuttgart21 allerdings 4,088 Milliarden Euro - und die Mehrkosten für die Kommune liegen rechnerisch bei 165 Millionen Euro. Aus heutiger Sicht wäre die Marke für einen Bürgerentscheid also überschritten. Dem steht freilich seit Sommer 2009 das abschlägige Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart entgegen. Seit diesem Zeitpunkt ist ein Bürgerentscheid mit dem Ziel, dass die Stadt Stuttgart aus dem Bahnprojekt Stuttgart21 aussteigt, unmöglich.

Im manchen Passagen seines Schreibens formuliert Schuster mit ungewohnter Süffisanz und Schärfe: Bei seiner Ablehnung des Bürgerentscheids habe er sich auf Mehrheitsbeschlüsse des Gemeinderats gestützt, außerdem halte er sich an Verträge, betont Schuster: "Es mag sein, dass in Tübingen eine andere Rechtsordnung herrscht und Sie an Beschlüsse des Gemeinderats und an rechtsverbindliche Verträge nicht gebunden sind." Das demokratische Gemeinwesen werde künftig nicht mehr funktionieren, wenn "diejenigen Recht bekommen, die am lautesten mit der Trillerpfeife auf der Straße demonstrieren", betont Schuster: "Deshalb habe ich ein grundsätzlich anderes Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Sie."

Schusters Brief schließt mit der Feststellung: "Ich weiß, dass mancher Tübinger Bürger von Ihnen und Ihrer Arbeit enttäuscht ist. Doch keine Sorge, ich habe weder Lust noch Zeit, mich in die kommunalpolitischen Angelegenheiten der Stadt Tübingen einzumischen, weil ich dies als ungehörig und unfair empfinden würde."

Nicht nur bei Palmer, auch vor den Stuttgart-21-Gegnern will OB Schuster offenbar mehr als bisher in die Offensive gehen. "Ich bin bereit, auf der nächsten Montagsdemonstration zu sprechen", sagte er am Donnerstagabend gegenüber dieser Zeitung. "Als Gast sollte ich dort allerdings ein paar Minuten zu Wort kommen."

Der Brief von OB Schuster im Wortlaut

Brief von OB Schuster an Tübingens OB Palmer

Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster hat sich in einem Schreiben zum Thema: „Vorwurf des Wortbruchs und des Machtmissbrauchs anlässlich der Montagsdemo vom 23. August 2010“ an Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer gewandt. Der Brief trägt das Datum 8. September 2010 und ist im Folgenden dokumentiert:

„Sehr geehrter Herr Palmer,

ich habe einige Zeit gezögert, Ihnen diesen Brief zu schreiben, bin jedoch von Kollegen ermuntert worden, dieses zu tun. Sie sind 2004 nach dem ersten Wahlgang mit 21,5 % als Verlierer aus der OB-Wahl ausgeschieden. Sie wollten, dass Ihr Engagement und Ihre Anliegen, die Sie als Kandidat vorgebracht haben, nicht gänzlich untergehen. Aus diesem Grunde haben wir gemeinsam Themen erörtert, die zugleich Zeichen für eine Zusammenarbeit der GRÜNEN mit der CDU in der Zukunft sein können, z. B. eine verstärkte städtische Innenentwicklung und damit der Wegfall von Wohngebieten auf der grünen Wiese.

Ein Thema war auch die Beteiligung der Bürger beim großen Projekt Stuttgart 21 und die Frage, ob ein Bürgerentscheid noch möglich ist. Uns war beiden bekannt, dass ein Bürgerentscheid über eine Finanzierungsfrage nicht möglich ist. Deshalb hatten wir damals über eine Formulierung diskutiert, zu der ich selbstverständlich heute noch stehe. Wir haben uns über die Frage der Zulässigkeit eines Bürgerentscheids in der Zwischenzeit wiederholt ausgetauscht. Ich darf auf die von Ihnen akzeptierte Pressemitteilung vom 23. Juli 2007 verweisen (vgl. Anlage).

Ihre erneute Behauptung am 23. August 2010, ich hätte einen ‚Wortbruch’ begangen, entbehrt deshalb jeder Grundlage. Ich finde es befremdlich, dass Sie mich wiederholt in dieser Weise diffamieren. Ich stehe zu dem, was ich damals gesagt habe und ich erwarte von Ihnen, dass Sie ebenfalls zu Ihrem Wort stehen. In Ihrer Rede am 23. August 2010 haben Sie mir ferner ‚Machtmissbrauch’ vorgeworfen. Faktum ist, dass die Unterschriftensammlung für das Bürgerbegehren nach den Gemeinderatsbeschlüssen und nach dem Abschluss der Verträge begann. Die Organisatoren des Bürgerbegehrens haben deshalb gewusst, dass dieses Bürgerbegehren rechtswidrig war und die Bürger getäuscht. Ich darf auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart hierzu verweisen.

Dies bedeutet, dass mein ‚Machtmissbrauch’ darin besteht, dass ich mich an Beschlüsse des Gemeinderats, die mit über 80 % der Stimmen gefasst wurden, und an rechtsgültige Verträge halte. Beides wurde von Gerichten überprüft und als rechtlich korrekt beurteilt. Es mag sein, dass in Tübingen eine andere Rechtsordnung herrscht und Sie an Beschlüsse des Gemeinderats und an rechtsverbindliche Verträge nicht gebunden sind. Unser freiheitlich demokratisches Gemeinwesen wird künftig nicht mehr zum Wohle aller, vor allem auch von Minderheiten funktionieren, wenn diejenigen Recht bekommen, die am lautesten mit Trillerpfeifen auf der Straße demonstrieren. Deshalb habe ich ein grundsätzlich anderes Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wie Sie.

Ich weiß, dass mancher Tübinger Bürger von Ihnen und Ihrer Arbeit enttäuscht ist. Doch keine Sorge, ich habe weder Lust noch Zeit, mich in die kommunalpolitischen Angelegenheiten der Stadt Tübingen einzumischen, weil ich dies als ungehörig und unfair empfinden würde.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Dr. Wolfgang Schuster “