Als hätte jemand an der Uhr gedreht: Mit dem historischen Dampfschnellzug auf großer Fahrt über den Semmering. Foto: Claudia Barner

Die nostalgische Zugnummer für alle, die es gemütlich mögen - entschleunigtes Reisen mit dem historischen Dampfschnellzug von Mannheim nach Österreich.

St. Pölten - Es ist in der heutigen Zeit ja nicht mehr ganz einfach, erhöhte Aufmerksamkeit für seine Reisepläne zu erzeugen. Der moderne Tourist sollte schon mal auf dem Mond vorbeischauen, mit dem Fahrrad die Antarktis durchqueren oder wenigstens zum Frühstück nach New York jetten. An guten Tagen reicht aber vielleicht eine passende Mitfahrgelegenheit im historischen Dampfschnellzug nach St. Pölten. Die Annahme jedenfalls, der viertägige Trip zu unseren niederösterreichischen Freunden könnte kaum mehr sein als ziemlich viel Rauch um nichts, hat Berta eindrucksvoll fauchend widerlegt. Eigentlich heißt Berta ja Nulleinspunktzehnsechsundsechzig.

So jedenfalls wird sie von ihren Liebhabern gerufen. Sie ist 75 Jahre alt, aber immer noch unfassbar sexy, und wenn sie im Bahnhof mit ihren Reizen spielt, gilt sie ohne Zweifel als eine ganz besondere Zugnummer. Mit ihren 200 Tonnen wirkt sie vielleicht ein bisschen pummelig. Aber wenn sie sich vor den historischen Sonderzug spannt, wird schnell klar: Sie hat für ihr Alter noch ordentlich Dampf unterm Hintern. 2600 PS, um genau zu sein. In den fünfziger und sechziger Jahren verkehrte sie als Lok-Mittel zwischen dem Revier und Hamburg, später fuhr sie so zuverlässig surrend wie eine Nähmaschine über den Hindenburgdamm rüber nach Sylt. Jetzt genießt die alte Dame ihren Ruhestand.

Ein Dampfschnellzug als Muntermacher

Gehegt und gepflegt von Menschen, die es immer nur gut mit ihr meinen. Weil aber rostet, wer rastet, fahren sie die wunder schöne 01.1066 öfter mal aus. Dann hat sie historische Wagen im Schlepptau, und alles wirkt so, als hätte jemand rückwärts an der Uhr gedreht. Mit 110 Kilometern pro Stunde geht die Reise gemütlich schaukelnd nach St. Pölten. Das dauert natürlich ein bisschen, aber wer - die Arme wie früher aufs offene Fenster gestützt - die Welt von Mannheim über Stuttgart, Ulm, Augsburg, München und Salzburg bis nach St. Pölten an sich vorüberziehen lässt, ahnt, was es bedeuten könnte, die Welt ein bisschen langsamer zu erleben. Überall ist es so, als ob die liebe alte Tante endlich mal wieder auf Besuch vorbeikäme. Der historische Dampfschnellzug als Muntermacher.

Väter, die den Dinosaurier der Maschinen- und Antriebstechnik mit wichtiger Stimme ihren Söhnen zeigen: „Guck mal, Jonas!“ In den Bahnhöfen Spaliere aus glücklichen Gesichtern: „Och, wie schön . . .“ Und allerorten ins Detail verliebte Archivare, denen die Videokamera aus der Stirn zu wuchern scheint: „Mensch, ist doch toll, dass es so was noch gibt!“ Weil das Schöne und Tolle aber selten auf den Bäumen wächst, hat Walter Urbancik ein großes Problem. „Ich verwalte den Mangel“, sagt der Finanzvorstand des Vereins Historischer Dampfschnellzug (HDS e. V.). Und als müsste er das noch beweisen, dreht er die leeren Hosentaschen nach außen. 180 000 Euro kostet es, wenn die 01.1066 einmal komplett durch die Hauptuntersuchung ist. Weil der HDS aber weder Banken überfällt noch heimlich Blüten druckt, veranstaltet er ein- oder mehrtägige Sonderfahrten, um den Spaß mit der Nostalgie und Technik zu finanzieren.

Ganz billig ist das für den Fahrgast nicht, aber das „besondere Erlebnis mit Gänsehauteffekt“ ist keine Reise mit Nullachtfünfzehn-Erinnerungswert. „Wir sind natürlich sehr daran interessiert, unseren Gästen immer etwas Besonderes zu bieten“, sagt Walter Urbancik. Deshalb dürfen die Eisenbahnromantiker in St. Pölten wählen: Entscheiden sie sich tags darauf a) für eine Kloster-Tour durch die Wachau zum Stift Melk und Stift Göttweig? Bevorzugen sie b) die Fahrt mit der historischen Mariazeller Bahn? Oder steht ihnen der Sinn nach c) - einer Fahrt mit der „Bim“, der historischen Tram, durch Wien? Nehmen wir mal c). Wien wackelt, weil die Bim so schwankt wie ein Zecher nach dem Heurigen.

Ein kurvenreicher Ritt

Sie ächzt, rattert, knattert, manchmal hält sie unvermittelt an. Weil der Schaffner eine raucht. Oder weil die Fremdenführerin erzählt, wo sich Mozart und Beethoven herumgetrieben haben und wie es war mit der schönen Sisi und ihrem Kaiser. Oder weil der multioptionale Reiseorganisator Urbancik seine Gäste zum Besuch in den Wiener Musikverein bittet. Das ist, wie manche schon ahnen, keine Blaskapelle, sondern eine der bedeutendsten Wiegen klassischer Musik. Immer an Neujahr verzücken dort die Wiener Philharmoniker mit einem weltberühmten vergnüglichen Konzert. Und wenn man in diesem erhabenen Saal so sitzt, ist es, als wollten die Musiker sie uns endlich mal beibringen - die Flötentöne.

Es kommt aber noch besser. Oder höher. Am Tag darauf zieht die angestrengt dampfende, fauchende und stampfende 01.1066 über den Semmering. Ein kurvenreicher Ritt über historisches Geläuf durch die Alpen - über 100 gewölbte Steinbrücken, mit grandiosen Ausblicken und unverhofften Einsichten. Wer jetzt denkt, dass es das schon war, klebt bei der anschließenden Fahrt durchs Gesäuse am Fenster wie ein Kind an der Auslage des Spielzeugladens. Im 16 Kilometer langen Durchbruchstal der wild schäumenden Enns scheinen die steilen und schroffen Kalkwände zum Greifen nah. Das muss der Mensch erst einmal verdauen. Auf der Rückfahrt macht man das am besten mit „Schmieröl“, einem Schnäpschen an der Bar.

Oder beim Kaiserschmarrn im nostalgischen Speisewagen, kredenzt vom freundlichen Service der Ehrenamtlichen. Wenn man Glück hat, scheppert im mit dicken Sesseln ausgestatteten Salonwagen irgendwann das Klavier. Es hat sich herumgesprochen: Ein Gast aus England feiert Geburtstag. Der Bursche sieht aus wie Jim Knopf aus dem Buch von Michael Ende, und seine Kumpels sind besser drauf als die Wilde 13. „Karle, setz dich ans Klavier“, ruft die Dame aus dem Schwäbischen, „spiel, der Kerle heißt Ray. Des kannsch dir doch merka.“ Karle spielt. Berta faucht, Ray strahlt, und die Gäste singen. „Happy birthday tuh juuuh!“ Es ist, als sei heute irgendwann gestern gewesen.

Historischer Dampfschnellzug

Reisen wie in alten Zeiten
Die viertägige Reise mit dem historischen Dampfschnellzug führte über Mannheim, Heidelberg, Stuttgart, Ulm, München-Ost nach St. Pölten. Unterkunft im Vier-Sterne-Hotel. Die Lok der Baureihe 01.1066 konnte ursprünglich bis zu 140 km/h schnell fahren. Um den Dino zu schonen, beträgt die Reisegeschwindigkeit aktuell nur noch 110 km/h. Angehängt sind historische Wagen der ersten und zweiten Klasse, ein Speisewagen und ein Salonwagen. An Steilstrecken wie der Geislinger Steige oder bei der Rundfahrt über den Semmering unterstützt eine E-Lok die 01.1066. Die Lok wird mit Schweröl, nicht mit Kohle betrieben.

Veranstalter
Der Verein Historischer Dampfschnellzug e. V. (HDS), unter dem Dach der Ulmer Eisenbahnfreunde (UEF), hat sich die Unterhaltung und Pflege der 01.1066 zur Aufgabe gemacht. 110 Mitglieder, Jahresbeitrag 55 Euro. Auf der Fahrt nach St. Pölten waren 22 ehrenamtliche Helfer auf dem Zug, darunter ein sechsköpfiges Team (Heizer, Lokführer) auf der Lok. Der Zug muss außer der Reihe in den Fahrplan eingearbeitet werden, weshalb es unterwegs immer mal wieder zu Aufenthalten kommen kann.

Was Sie tun und lassen sollten
So ein Dampfschnellzug ist kein Fünf-Sterne-Hotel. Es kann schon mal passieren, dass Ruß an die Kleidung gelangt. Auf jeden Fall deshalb Kaschmirmäntel, Stöckelschuhe und weiße Hosen zu Hause lassen. Der Service an Bord wird komplett von Ehrenamtlichen erledigt. Das Essen im Speisewagen ist lecker, erhebt aber nicht den Anspruch eines Sterne-Restaurants. Geduld und Nachsicht können nicht schaden.

Wer Teile der Fahrt am offenen Fenster genießen will, sollte auf keinen Fall Brille, evtl. Handschuhe, Schal, dicken Pulli vergessen.

Reiseprogramm 2015
Am 21. Februar steht zum Beispiel eine winterliche Rundreise durchs Allgäu im Programm, am 21. März der „Schneewalzer“, eine winterliche Reise durch den Thüringer Wald. Vom 16. bis 19. April geht es zu einer Viertagestour nach Dresden. Am 1. Mai faucht die Dampflok an den Bodensee. In Lindau geht es dann an Bord des historischen Dampfschiffes „Hohentwiel“ zu einer Rundfahrt übers Schwäbische Meer.

Weitere Informationen: Nähere Infos zum Reiseprogramm unter www.schnellzuglok.de oder Tel. 07 11 / 1 20 97 05. Das gedruckte Reiseprogramm 2015 kann angefordert werden unter: UEF - Historischer Dampfschnellzug e. V., Postfach 10 01 16, 70001 Stuttgart