Die Bahn rät Begleitpersonen, nicht mit den Fahrgästen in den Zug einzusteigen, wenn dieser mit Verspätung angekommen ist. Denn dann fährt er so schnell wie möglich weiter. Die reguläre Haltedauer für einen ICE in Stuttgart beträgt vier Minuten. Foto: photothek.net

Tina Schäme aus Möhringen will eigentlich nur ihrem Neffen bei der Suche nach dem Sitzplatz und mit dem Gepäck helfen. Doch dann schließen sich die Zugtüren und der ICE fährt los – mit ihr darin.

Möhringen - „Bitte einsteigen, die Türen schließen selbsttätig. Vorsicht bei der Abfahrt.“ Solch eine Durchsage kennt man als Bahnfahrer. Sie ertönt auf den Gleisen kurz vor der Abfahrt der Züge. Was aber, wenn man sich im Zug befindet, wenn dieser losfährt, obwohl man gar nicht mitfahren möchte? Genau das ist Tina Schäme aus Möhringen passiert. Die 51-Jährige hat ihren 13-jährigen Neffen zum Zug gebracht, ihm mit seinem Gepäck und der Sitzplatzsuche geholfen – und plötzlich gingen die Türen zu und der ICE fuhr los.

Der Tag mit der unfreiwilligen Odyssee von Tina Schäme beginnt früh, der Wecker klingelt um 4.20 Uhr. Die Stadtbahn bringt die Möhringerin und ihren Neffen zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Um 5.51 Uhr soll der ICE in Richtung Utrecht abfahren. „Ich habe meinen Neffen in den Wagenstandsanzeiger und die entsprechenden Abschnitte am Bahngleis eingewiesen. Dann haben wir festgestellt, dass der ICE circa 100 Minuten Verspätung hat“, erzählt sie. „Das war vielleicht ein Schock.“ Schäme und ihr Neffe gehen zum Infoschalter, dort bekommen sie eine alternative Fahrplanauskunft. Im Kundenzentrum buchen sie um, samt Sitzplatzreservierung. Der andere ICE soll um 7.51 Uhr fahren; die beiden schlagen die Zeit tot.

Der verspätete Zug steht am Gleis

„Um 7.40 Uhr waren wir am richtigen Bahngleis. Dort stand der ICE, der um 5.51 Uhr hätte fahren sollen. In diesen sind wir eingestiegen“, erzählt sie. Es sei keine Durchsage gekommen, wann der Zug losfahre oder dass der reguläre 7.51-Uhr-ICE von einem anderen Gleis starte. „Ich habe dann interpretiert, dass einer der beiden Züge ersatzlos entfällt“, sagt Schäme. Die 51-Jährige geht daher davon aus, dass der Zug nach Fahrplan abfährt. Sie steigt mit ein, sucht den Sitzplatz, verstaut den Koffer. Gerade will sie sich von ihrem Neffen verabschieden, als der ICE unvermittelt losfährt. „Supertoll für mich. Ich musste bis zum ersten Halt in Mannheim mitfahren“, erzählt sie. Ein kleiner Trost: der Zugbegleiter glaubt ihr; sie darf kostenlos mitfahren. Für die Rückfahrt muss die 51-Jährige aber freilich eine Fahrkarte kaufen.

Vier Stunden zu spät kommt Tina Schäme zur Arbeit, wütend und dehydriert. Sie habe nichts zu essen oder trinken dabei gehabt – an dem Tag war es 37 Grad heiß – und habe in der Hektik und Unsicherheit auf der Rückfahrt auch keinen Nerv gehabt, das Bordrestaurant zu suchen. „Ich habe mich sehr über die Bahn geärgert“, sagt sie. Da sie nicht viel Erfahrung mit Bahnfahren habe, wisse sie nicht, ob es Usus sei, dass der Zug ohne Ankündigung losfahre. „Ich hätte mir diese Info aber gewünscht.“

Ein ungeplanter Zwischenhalt ist nicht möglich

Tatsächlich sei es nicht üblich, dass es in den Zügen eine Durchsage gebe, bevor diese losfahren, sagt ein Sprecher der Deutschen Bahn AG. „Es gibt eine Ansage auf den Bahnsteigen bei Ankunft und Abfahrt. Außerdem wird im Zug kurz vor der Ankunft darüber sowie über die Anschlüsse informiert“, erklärt er und wirbt um Verständnis, dass es innerhalb der Züge keine Durchsagen vor der Abfahrt gibt. „Für die Fahrgäste ist diese Information ja auch unnötig.“ Zudem wolle man die Passagiere nicht mit Durchsagen überfluten.

Ein ungeplanter Zwischenhalt, um die Person aussteigen zu lassen, sei nicht möglich. Man müsse stets zu Gunsten der Mehrheit der Reisenden entscheiden, und ein Extrahalt könne leicht sechs Minuten weitere Verspätung generieren. Normalerweise sind für ICEs in Stuttgart vier Minuten Haltezeit eingeplant. An anderen Bahnhöfen sind es sogar teils nur zwei Minuten; die längere Dauer in Stuttgart ist im Richtungswechsel begründet. „Wenn ein Zug verspätet ist, dann wird natürlich versucht, die Haltezeit weiter zu verkürzen“, erklärt der Bahnsprecher. Dies liege schließlich im Interesse der Fahrgäste.

Emotionale Abschiede besser auf dem Bahnsteig

Sein Ratschlag, um solch eine unfreiwillige Odyssee künftig zu vermeiden: Man solle die Zugbegleiter bitten, dem Passagier bei der Sitzplatzsuche und mit den Koffern zu helfen. „Dafür sind die Servicemitarbeiter da.“ Im Normalfall – wenn der Regelfahrplan eingehalten wird – könne man das „Risiko“ miteinzusteigen sicher eingehen, so der Sprecher. Der Zug fahre keinesfalls früher ab. Bei verspäteten Zügen aber solle man „den emotionalen Teil lieber auf den Bahnsteig verlegen“, empfiehlt er.

Kommt es öfter vor, dass jemand unbeabsichtigt mitfährt? „Es ist selten, aber es ist nicht ausgeschlossen“, sagt der Bahnsprecher. Jedoch habe man kaum Beschwerden deswegen erhalten. Tina Schäme jedenfalls hat sich an den Kundenservice der Bahn gewandt und ihr Erlebnis geschildert. Sie hofft, das Geld für die Rückfahrkarte erstattet zu bekommen. Das sei der richtige Weg, so der Sprecher. „Versprechen kann ich ihr allerdings nicht, dass es klappt.“ Er könne auch keine Prognose abgeben, wie hoch die Chancen seien.