OB Fritz Kuhn über sein erstes Jahr als Oberbürgermeister von Stuttgart Foto: Max Kovalenko

Am 7. Januar kann Fritz Kuhn auf sein erstes Jahr als Grünen-Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt zurückblicken. Es war schön, sagt er im Interview. Zuletzt wurde er allerdings Zielscheibe von Rechtspopulisten.

Am 7. Januar kann Fritz Kuhn auf sein erstes Jahr als Grünen-Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt zurückblicken. Es war schön, sagt er im Interview. Zuletzt wurde er allerdings Zielscheibe von Rechtspopulisten.

Stuttgart - Herr Kuhn, haben Sie auch Angst vor Muslimen? In den letzten Wochen suggerierten rechtspopulistische Hetzer im Internet, dass in Stuttgart das Abendland untergehe.
Nein, ich habe keine Angst.
Ihnen wurde vorgeworfen, Sie wollten Schweinefleisch aus städtischen Kantinen verbannen. Ein Gymnasium musste eine interkulturelle Feier in einem Gotteshaus absagen. Gegen den katholischen Stadtdekan wird gehetzt, weil er zu tolerant war. Wächst hier rechter Radikalismus heran?
Das mit dem Schweinefleisch ist Quatsch, und die Hetzerei im Internet ist kein Stuttgarter Phänomen. Das sind Netze, die im Internet deutschlandweit und sogar über Deutschland hinaus aktiv sind. Aber klar ist, es gibt rechts denkende Leute, die mit Drohungen gegen andere vorgehen, wenn ihnen etwas nicht passt. Und die fühlen sich im Internet besonders wohl. Demokraten dürfen sich davon nicht beeindrucken lassen. Man muss hart und klar gegen solche Umtriebe Stellung beziehen, aber deren Aktivisten nicht auch noch aufwerten.
Das sind keine Vorboten für eine besondere Zerreißprobe dieser Stadtgesellschaft?
Die Menschen in Stuttgart werden das zurückweisen. Wir müssen nur schauen, dass mit der Zunahme von Flüchtlingen nicht eine Konfrontation aufgebaut wird, die es so nicht gibt. Das hat sehr damit zu tun, wie wir uns selbst verhalten. Wir dürfen nicht hysterisch sein.
Auch weniger verblendete Menschen befürchten diffus, dass das Deutsche in Deutschland langsam ausstirbt.
Ich habe nicht das Gefühl, dass ich aussterbe. Alle Menschen, die hier leben, sind für mich Stuttgarter, manche mit türkischem, manche mit kroatischem, manche mit syrischem Hintergrund. Manche kommen aus Norddeutschland oder aus Bayern zu uns. Wenn wir als Stadt diese Leute gut aufnehmen, profitieren wir sehr davon. Stuttgart wird vielfältiger und reicher. Und wir verlieren in der Summe keine Einwohner. Außerdem: Man kann nicht Waren in die ganze Welt exportieren, die eigene Stadt aber verschließen wollen. Natürlich ist Integration manchmal auch mit Schwierigkeiten verbunden. Daher müssen sich alle Beteiligten ein wenig anstrengen. Integration ist keine Party, sondern der Alltag.
Integrationspolitik hat in Stuttgart Tradition. Muss sie erneuert und forciert werden?
Wir müssen die Haltung, die mein Vorvorgänger Manfred Rommel hatte, bewahren: Seid gut zu den Leuten und heißt sie willkommen. Manches muss man auch verändern. Wenn jetzt zum Beispiel mehr junge Männer als Flüchtlinge kommen, muss man bei der Unterbringung darauf reagieren. Und wir sind noch mehr darauf angewiesen, dass schnell Deutsch gelernt wird. Das müssen alle wissen, die zu uns kommen: Die gemeinsame Sprache ist der Beginn des gemeinsamen Lebens. Wenn man die Flüchtlinge aber nur auf Distanz halten möchte, wird es für alle schwieriger, nicht einfacher.
In den letzten Tagen wurde aus aktuellem Anlass gefordert, dass man den Denkort Hotel Silber größer auslegt und das zweite Obergeschoss dazu nimmt. Warum stimmten Sie gegen den SPD-Antrag für das zweite OG?
Wir machen jetzt das Hotel Silber zu einem Gedenkort, der sich nicht nur der Vergangenheit widmet, sondern auch zeitgenössischen Phänomenen der Verfolgung und Ausgrenzung von Menschen. Wir haben uns gefragt, was finanzierbar ist, und sind erst mal zu einer Lösung ohne zweites OG gekommen. Die Option bleibt aber, denn das Land hat zugesagt, das zweite OG zunächst nur auf zwei Jahre zu vermieten. Eines halte ich allerdings fast schon für unerträglich: dass man die zu guten Antifaschisten erklärt, die für das zweite OG sind, und die anderen zu schlechten Antifaschisten. Ich lasse mich nicht in diese Ecke drängen. Ich rate da zur verbalen Abrüstung. Wir realisieren den Gedenkort. Darüber kann man sich freuen, weil das ein langer Weg war.
Sie haben jetzt das erste Amtsjahr hinter sich. Wie war’s?
Ich bin sehr glücklich, dass ich Oberbürgermeister von Stuttgart bin. Es war ein anstrengendes Jahr, aber es war auch schön. Die Bevölkerung und die Verwaltung haben mich warm empfangen. Ich habe viele Sachen auf den Weg gebracht, die ich im Wahlkampf diskutiert hatte. Zum Beispiel ein gutes Verkehrskonzept oder ein Wohnkonzept für Stuttgart. Dass Grüne, CDU, SPD und FDP dem Haushalt für 2014/15 zugestimmt haben, ist ein Erfolg für die Rathausdemokratie und auch für mich. Meine Politik wird von einer breiten Mehrheit derer mitgetragen, die die Stadt gestalten wollen.
Was war der schönste Tag?
Das ganze Jahr war spannend. Am emotionalsten fand ich, wie Armin Petras sein neues Ensemble am Schauspiel des Staatstheaters präsentiert hat. Man spürte, dass die Stuttgarter diese Truppe toll finden. Ich hatte aber auch sonst viele schöne Erlebnisse und Gespräche. Ich habe das Gefühl, dass ich für Stuttgart etwas bewegen kann.
Was war der deprimierendste Tag?
Nicht deprimierend, aber schwierig war die Schließung des Fernsehturms. Brandschutzexperten hatten mir gesagt, es gebe keinen Fluchtweg. Ich musste den Turm zumachen, wissend, was das für Stuttgart bedeutet. Dabei will ich den Leuten ja was geben, nicht was wegnehmen. Im Januar haben wir Gespräche, in denen wir die technischen Fragen aus dem Gutachten vollends klären.
Wann können Sie uns wiedergeben, was Sie uns im Frühjahr 2013 nahmen? Vielleicht am Jahrestag der Schließung?
Wir werden den Turm wieder öffnen. Aber ich sage noch kein Datum. Noch mal: was heißt nehmen und wiedergeben? Bei den Fakten, die auf dem Tisch lagen, hatte ich keine Wahl, ich musste so handeln. Die Stuttgarter wissen, dass sie in mir niemanden gewählt haben, der sich wegdrückt, wenn es mal schwierig wird. Aber ich mache den Turm auch wieder auf – mit einem sicheren Fluchtweg.
Sind Sie eigentlich mit der Verwaltung zufrieden? Spuren Ihre Bürgermeister?
Ums Spuren geht es überhaupt nicht. Wir haben eine gute Atmosphäre, die Bürgermeister arbeiten engagiert. Was ich eingeführt habe und auch noch verstärken werde, ist die Teamarbeit. Früher waren die Bürgermeistereien eher autonome Gebilde. Zwei Jahre lang hatte es auch keine Bürgermeisterrunden gegeben.
Manche sagen, die Bürgermeisterrunden mit Ihnen wären auch wieder eingeschlafen.
Nein, keineswegs. Da wird diskutiert, und da werden auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Referaten und Bürgermeistern ausgetragen. Ähnlich verstärkte Zusammenarbeit gibt es auch unterhalb der Bürgermeisterebene. Wenn ein neues Thema aufkommt, werden schnell die Verantwortlichen an den Tisch geholt, die den Hut aufhaben. Das will ich aber noch verbessern, das muss noch schneller und noch effektiver gehen. Aber in der Summe habe ich nichts zu kritisieren: Die Leute in dieser Verwaltung wollen etwas schaffen, und sie wollen klare Ansagen, wohin die Reise geht.
Sie und die Bürgermeister müssen sich doch von Lenkungskreisen und Task-Forces umzingelt fühlen wie Waldbesucher von Bäumen.
Nein. Aber Sie haben insofern recht, dass man nicht überall Lenkungskreise einrichten darf. Für alltägliche Fragen ist das Amt X oder Y zuständig. Doch wenn Stuttgart beispielsweise den Feinstaub nicht bewältigen kann und im Stau steht, braucht es mehr. Deshalb der Lenkungskreis. Für uns Stuttgarter ist das ein Drahtseilakt: Wie verwandeln wir eine Automobilstadt in eine Mobilitätsstadt, die immer noch viele Arbeitsplätze rund ums Auto hat, vielleicht um ein besser angetriebenes Auto? Wir müssen zeigen, wie neue Mobilität geht – mit, nicht gegen die Autoindustrie. Innovationen darf man nie satthaben, da muss man immer hungrig sein.
Das Rathaus unter Ihnen wirkt ein wenig, als ob ein Kanzler mit Ministern regiert.
Da sind Sie auf einem falschen Trip. Ich hatte nie vor, hier Berlin nachzuspielen. Aber wir haben viele städtische Aufgaben, und wir haben sieben Bürgermeister. Wir müssen effektiv arbeiten. Effektiv und transparent bedeutet auch bürgernah.
Wie gefällt Ihnen der Gemeinderat?
Mich beeindruckt, mit welcher Ernsthaftigkeit es um die Sache geht. Ich komme mit den Fraktionen gut aus. Die Haushaltsberatungen waren auch vom Ergebnis her gut. Erstaunt hat mich die Fraktion SÖS/Linke, die in vielen Einzelfragen mitverhandelt hat, sich am Schluss aber in die Büsche schlug. Nur ihre Stadträtin Ulrike Küstler beschloss den Haushalt mit. Fraktionschef Hannes Rockenbauch machte sich mit einer Leichtfüßigkeit vom Acker, die mich überrascht hat. Man kann einen Haushalt ja ablehnen, aber wenn man in Verhandlungen schon vieles durchbekommen hat, dann muss man ihm auch zustimmen.
Das illustrierte auch, dass es um den Zusammenhalt der öko-sozialen Mehrheit, Ihrer Hausmacht, nicht toll bestellt ist – und dass man ab und an sogar die FDP braucht.
Kommunale Demokratie lebt nach der südwestdeutschen Ratsverfassung sowieso von wechselnden Mehrheiten. Eine Koalitionsbildung ist nicht vorgesehen. Ich habe mich deswegen immer gewundert, mit welcher Bestimmtheit manche Leute davon ausgingen, dass es eine grün-rot-rote Mehrheit gibt. Tatsächlich gibt es die nur bei manchen Fragen.
Bei der Gemeinderatswahl im Mai könnte Ihre Hausmacht noch mehr bröckeln.
Mich beunruhigt diese Wahl nicht. Der Wähler wird entscheiden, wen er wie platzieren wird. Aber da Sie ja schon mal in politischen Lagern wie auf Bundesebene denken: Ich glaube nicht, dass Grün-Rot bei der Gemeinderatswahl Mandate verlieren wird. Ein OB muss am Ende aber sowieso mit jeder Konstellation arbeiten können.
Was wollen Sie im Amt überhaupt erreichen? Wie viel Vision, wie viel Erledigung von Alltagsarbeit? Kürzlich sagten Sie, Sie wollten in den Etatberatungen keine Leuchttürme setzen, sondern grundlegend arbeiten.
Ich halte nichts von der Methode, dass man im Grunde alles lässt, wie es ist, aber wichtigtuerisch mal ein Ökohaus baut. Man muss Häuser generell ökologischer bauen oder umbauen. Das heißt, wir müssen die Infrastruktur verbessern, auch die kulturelle. Wir müssen Straßen erneuern, Radwege, Wohnraum, vor allem bezahlbaren, und Kitaplätze schaffen, den öffentlichen Nahverkehr stärken. Ich will schauen, was die Stadt in der Breite braucht. Das ist meine Aufgabe, die ich voll annehme.
Dieser Kurs ist nicht spektakulär, aber teuer.
Die Stadt hat in der Vergangenheit Schulden abgebaut, aber einen Nachholbedarf bei der Infrastruktur geschaffen. Unterlassene Investitionen sind Schulden. Unterlassene Investitionen können später sogar noch teurer werden. Dass Stuttgart schuldenfrei ist, war eine Illusion.
Wo muss sonst noch umgesteuert werden bei den alltäglichen Dingen? Der Reisende registriert, dass in Städten wie Istanbul viel auf Sauberkeit gehalten und mehr gereinigt wird.
Das ist auch ein Thema der früheren Haushaltskonsolidierungen. Viele kleine Müllkörbe quellen bei uns einfach über. Aber die Umstellung ist teuer. Sie haben recht: Die ganze Art, wie eine Stadt sich präsentiert, wie sauber sie ist, wie intakt sie ist, wann was offen hat, das macht Stadt aus. Das sehe ich als Aufgabe, die ich als Grüner angehen muss.
Wo sehen Sie noch Defizite?
Wir haben zum Beispiel einzigartige Stäffele. Aber kümmern wir uns genügend darum? Andere Städte würden da schon längst ein Weltkulturerbe draus machen. Wir kultivieren unsere Stärken zu wenig. Ich will, dass wir die schönste Landeshauptstadt der Republik bleiben. Das auf die Reihe zu bringen, darin sehe ich meine Aufgabe. Dafür muss man mit den Leuten reden. Ich kann ganz gut zuhören. Und auch durch die hervorragenden Bürgerumfragen unseres Statistischen Amts erfährt man, was die Menschen umtreibt.
Der neueste Wohnungsbericht von dort lässt aber verdächtig lang auf sich warten. Haus und Grund mahnt ihn schon an.
Haus und Grund ist ein wenig grundlos ungeduldig. Was haben die denn in den letzten Jahren gesagt, als es keinen grünen OB in Stuttgart gab? Jetzt habe ich ein ordentliches Konzept zur Wohnungspolitik gemacht. Und es war doch richtig, dass ich das auf einer fundierten Datengrundlage mache und nicht ins Blaue hinein. Der Bericht kommt, und da wird es keinen Widerspruch geben zu dem, was ich gerade im Wohnungspapier dargestellt habe.
Sie haben bis jetzt drei Schwerpunkte bearbeitet: Verkehr, Wohnen und Kitas. Was kommt 2014 jetzt auf Sie und auf uns zu?
Die drei Schwerpunkte sind nicht mit der Programmatik erledigt, daran wird weiter gearbeitet. Auf jeden Fall vorantreiben will ich das Thema Stadt am Fluss. Wir müssen auch klären, was wir genau im Neckarpark machen. Wir werden sicher bei den Flüchtlingen einiges zu stemmen haben. Vielleicht wird auch manches zu tun sein im Themenkreis Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung. Die Ausstattung der Stadtbezirke mit Geschäften der täglichen Versorgung wird uns verstärkt beschäftigen. Schließlich: Was passiert mit der Innenstadt, wenn die Einkaufszentren Gerber und Milaneo öffnen? Und dann müssen wir daran arbeiten, wie Gewerbegebiete in zehn Jahren aussehen. Wir können doch nicht immer nur jammern, dass Gewerbesteuern wegbrechen. Wir müssen neue Firmen für Stuttgart gewinnen.
Kann die Idee des grenzüberschreitenden Gewerbegebiets wiederbelebt werden?
Ich bin ein Fan davon, gerade in einer Region, die strukturiert ist wie unsere, und in einer Stadt, die wenig Flächen hat. Es gibt aber ein Problem: Wir bewegen uns an der Stadtgrenze oft im Grünland. Diesen Schatz wollen wir nicht opfern. Für mich können interkommunale Gewerbegebiet auch ganz auf der Fläche einer anderen Kommune liegen, wenn man Aufwand und Ertrag vernünftig teilt. Davon abgesehen, müssen wir uns um die Qualität unserer Gewerbegebiete kümmern. Firmen der produktionsnahen Dienstleistung haben heute andere Anforderungen. Das werden wir uns gründlich anschauen.
Wie steht es um die Energiewende? Unsere Stadtwerke möchten sogar im windarmen Stuttgart Windkraftanlagen bauen. Der Bund will das nur in Gebieten mit mehr Wind.
Ich hoffe, dass die Bundesregierung die Fehlentscheidung im Koalitionsvertrag korrigiert. Für uns bedeutet die Berliner Politik, dass die Stadtwerke voll in die dezentrale Energieerzeugung gehen und vor allen Dingen ein Geschäftsfeld aufnehmen müssen: Energieeinsparung und Energieeffizienz.
Die Stadtwerke werden also trotzdem gebraucht?
Wir haben viele Dächer, wo man mit Fotovoltaik viel erreichen kann. Wir haben viele Gebäude, die auf eine Isolierung warten. Daneben muss man dafür sorgen, dass die Leute einen energiesparenden Kühlschrank kaufen und keinen Billigkühlschrank. Die größte Energiequelle der Zukunft ist es, Energie einzusparen in den Haushalten. Man kann wirtschaftlich sehr profitieren, wenn man Einspartechnologien entwickelt.