Die Akten des Untersuchungsausschusses zum NSU in Baden-Württemberg füllen Dutzende Ordner Foto: dpa

Der Journalist Stefan Aust hat dem NSU-Untersuchungsausschuss geraten, den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter noch einmal intensiv zu betrachten. Es gebe Zeugenaussagen, wonach es mehr als zwei Täter gegeben haben könnte, sagte Aust am Montag vor dem Landtagsgremium in Stuttgart.

Stuttgart - Im Plenarsaal des Landtags herrscht absolute Stille. Nur die Sätze von Martin A. sind zu hören. Der Journalist Thumilan Selvakumaran verleiht dem jungen Polizeibeamten, der nur knapp dem Tod entkam, seine Stimme.

Am 25. April 2007 wurde A. durch einen Kopfschuss auf der Theresienwiese in Heilbronn schwer verletzt, seine Kollegin Michèle Kiesewetter ermordet – laut Bundesanwaltschaft von den mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Sie sollen Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) gewesen sein.

Mit der Aufklärung befasst sich seit November 2014 ein Untersuchungsausschuss im Stuttgarter Landtag. Dort zitiert Selvakumaran aus Polizeiakten, wie A. versuchte, sich an die Tat zu erinnern. Das sei ihm zunächst gelungen, ein Phantombild entstand. „Das muss der Täter sein!“, sei sich A. beim Anblick des Bildes sicher gewesen – veröffentlicht wurde es trotzdem nie. Selvakumaran, Reporter aus Schwäbisch Hall, hat dafür kein Verständnis: „Ich kritisiere, dass man sich zu früh auf die Zwei-Täter-Theorie festlegte.“ Nicht nur A. habe einen Mann beschrieben, der keine Ähnlichkeit mit Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt aufwies.

Andere Zeugen erwähnten in polizeilichen Vernehmungen mehrere blutverschmierte Männer am Tattag in Heilbronn. Ebenfalls rätselhaft: Ausgerechnet Kollegen der beiden angegriffenen Polizisten waren Mitglied im Ku-Klux-Klan (KKK). Weitere Beamte hätten ihr Interesse am rassistischen Geheimbund bekundet, Mitgliedsanträge ausgefüllt. Auch ein V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) mit dem Decknamen „Corelli“ habe sich bei den Ritualen der Kapuzenträger im Südwesten getummelt.

Die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss hören den Ausführungen von Selvakumaran aufmerksam zu, können aber oft nicht folgen. „Sie haben die Akten schon – wir bekommen sie erst“, sagt der Ausschuss-vorsitzende Wolfgang Drexler (SPD). Drexlers Parteigenosse Nikolaos Sakellariou bittet den als Sachverständigen vorgeladenen Journalisten gar um Kopien seiner Aktenvermerke. Sakellariou rudert erst zurück, als ihn der Vorsitzende darauf aufmerksam macht, dass die Weitergabe von Ermittlungsakten eine Straftat sei. Erst Ende März oder Anfang April erwarten die Ausschussmitglieder die Akten aus dem NSU-Ermittlungsverfahren beim Oberlandesgericht in München.

Auch das Journalisten-Duo Stefan Aust und Dirk Laabs hält den Parlamentariern Erkenntnisse aus Dokumenten vor, die das Gremium in Stuttgart noch nicht kennt. Die Ermittlungen zum Mordfall in Heilbronn seien „schlampig“ gewesen, so Laabs. Das Umfeld der getöteten Polizistin Kiesewetter sei nicht ausreichend durchleuchtet worden.

Nach einer „klassischen Täter-Opfer-Beziehung“ müsse man suchen. Als möglichen Ansatzpunkt nennt er Kiesewetters Onkel. Der habe sich als Beamter des Staatsschutzes mit genau jener Szene beschäftigt, aus der die mutmaßlichen NSU-Terroristen und ihr Umfeld gekommen seien. In Kiesewetters Heimat im thüringischen Oberweißbach gebe es aktive Rechtsextremisten. Diese seien eng mit der organisierten Kriminalität verknüpft, sind Laabs und Aust überzeugt.

Immer wieder fragen die Mitglieder des Ausschusses, ob die Böblinger Bereitschaftspolizistin ein Zufallsopfer gewesen sein könnte. „Wenn es ein Zufallsopfer war, dann war es ein gut ausgewähltes“, sagt Aust. „Falsifizierung“ empfiehlt Dirk Laabs als Methode für die Aufklärung – Stück für Stück falsche Annahmen widerlegen. Dass nicht willkürlich auf Michèle Kiesewetter und Martin A. geschossen wurde, meint auch Holger Schmidt: „Sie waren natürlich keine Zufallsopfer, sondern wurden ausgewählt, weil sie Polizeibeamte waren.“

Schmidt sitzt für den Südwestrundfunk als Beobachter im Münchner NSU-Prozess, der seit mehr als 180 Tagen andauert. Für ihn war die Heilbronner Bluttat vor allem ein Angriff auf den Staat. Die Mörder nahmen ihren Opfern die Dienstwaffen und weitere Ausrüstungsgegenstände ab – für Schmidt Zeichen einer „kultischen Verehrung als Trophäen“.

Bei seinen Recherchen habe er keine belastbaren Hinweise gefunden, dass sich Opfer und Täter kannten. Auch die anderen mutmaßlich vom NSU Getöteten – acht türkischstämmige Männer und ein Grieche – seien zufällig ausgewählt worden. Ins Stocken gerät Schmidt, als ihn der Grüne Alexander Salomon auf einen Aktenvermerk aus dem Jahr 2012 anspricht. Darin geht es um eine Kontaktaufnahme von Schmidt mit dem LKA im Zuge der Nachforschungen zu Tino B., einem ehemaligen V-Mann aus der Neonaziszene. Der Aktenvermerk sei eventuell falsch, so Schmidt.