Neo-Nazi und V-Mann: Tino Brandt Ende der 1990er Jahre Foto: dpa

Die Hauptangeklagte im NSU-Verfahren, Beate Zschäpe, misstraut ihren Anwälten. Offenbar, weil die dem Zeugen Tino Brandt die Rolle eines Friedensengels abnahmen. Eine Fehleinschätzung.

München - Wenn sich Tino Brandt an etwas erinnert, dann an seinen Weg der Gewaltlosigkeit. Über den gerät der korpulente, stiernackige Neonazi mit der Brille fast ins Schwärmen: „Wenn wir etwas verändern wollten, dann politisch und nicht mit Gewalt“, säuselt er. Und: „Gewaltdiskussionen gab es bei uns nicht.“ Uns – das ist der „Thüringer Heimatschutz“ (THS). Ein Netzwerk von 170 Rechtsextremen, eine Straßentruppe im Stil der SA, irgendwann 1994 von Tino Brandt gegründet. Aus dem THS, sind Ermittler überzeugt, ist der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) entstanden, der zehn Menschen ermordet haben soll.

Wenn Brandt vor dem Münchner Oberlandesgericht von seiner THS-Gruppe erzählt, dann entsteht der Eindruck, als sei da ein Knabenchor unterwegs gewesen: Mittwochs Stammtisch im heimatlichen Rudolstadt. Bier wird getrunken, Skat gekloppt und in rauchgeschwängerten Kneipen werden Billardkugeln versenkt. Politische Diskussionen sind tabu bei den Treffen. Am Wochenende verteilen die kahl geschorenen Männer Brandts in Bomberjacke und Springerstiefeln Flugblätter, auf denen sie ihre Sicht der Missstände in Deutschland anprangern: fehlende Meinungsfreiheit, Überfremdung, soziale Ungerechtigkeit. „Und Aufkleber haben wir auf Laternenpfähle geklebt“, beichtet Brandt – um ganz gönnerhaft mit den Richtern vor ihm zu werden: „Na ja, das ist Sachbeschädigung, ich weiß – unsere einzige Straftat“. Alles klingt, als beschreite Brandt den Weg des gewaltlosen Widerstandes gegen ein Unrechtssystem. So wie es der Inder Mahatma Gandhi getan hat. Brandt lehnt sich zurück, lächelt und schaut nach links.

Dort reißt Beate Zschäpe die Augen auf. Schüttelt mit den Kopf. Versteinert ihre Miene. Sie flüstert ihrem Verteidiger Wolfgang Heer etwas zu. Energisch. Es ist eine der wenigen Momente, in denen die 39-Jährige Gefühle zeigt. Zumindest in den 128. Tagen, die sie bislang als Hauptangeklagte vor dem Münchener Gericht erschien. In dem Verfahren wollen die Richter herausfinden, ob und wie Zschäpe an den Morden beteiligt war. Sie ist die einzige Überlebende des Trios, dem die Staatsanwälte die Bluttaten zur Last legen. Am Mittwoch hatte Zschäpe gesagt, sie habe kein Vertrauen mehr zu ihren drei Pflichtverteidigern Heer, Stahl und Stumm. Offenbar auch, weil die Angeklagte nicht länger schweigen will, wenn Leute aussagen wie Tino Brandt.

Auch auf dessen Aussagen stützen die Ermittler ihre Anklage. Brandt, der aktuell in Untersuchungshaft sitzt, weil er als Zuhälter Kinder und Jugendlich zur Prostitution gezwungen haben soll. Ein V-Mann, der vom Januar 1995 bis zum Mai 2000 und vom Juni 2000 bis Januar 2001 unter den Bezeichnungen VM 2045 und VM 2150 mit den Decknamen „Otto“ und „Oskar“ die rechtsextreme Szene für das Thüringische Landesamt für Verfassungsschutz ausspitzelte. 140 000 Euro soll er für seine Dienste erhalten haben.

Und: Während Brandt für die Inlandsgeheimen Rechtsextreme ausspähte, beteiligt er sich an einer Vielzahl verfassungsfeindlicher Aktionen. 35 Ermittlungsverfahren gegen den V-Mann listet das thüringische Innenministerium aus dieser Zeit auf: Volksverhetzung, Landfriedensbruch, Sachbeschädigung, Betrug und Bildung krimineller Vereinigungen. Er soll Ausschreitungen angezettelt haben. Die meisten Verfahren wurden auf wundersame eingestellt. Achtmal wurde Brandt angeklagt. Achtmal wurde Brandt freigesprochen.

In München belastet er Zschäpe: Die habe mit ihren Kumpanen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zur Kameradschaft Jena gehört. Eine zahlenmäßig kleine, dafür aber „elitäre, weltanschaulich gefestigten“ Truppe. Kein Vergleich zu im Gegensatz zu anderen Neonazi-Gruppen, in denen sich naive Teenager sammelten, die „viele Schulungen brauchten, um sich ideologisch zu festigen“. Ganz anders in Jena: „Die brauchten keine weltanschauliche Schulung.“ Da habe „Qualität statt Quantität“ gegolten, „hundertprozentig überzeugte Kameraden“, die „dem Nationalsozialismus und dessen Idealen“ nahegestanden und so manches Ding „konspirativ durchgezogen“ hätten – ohne dass Tino Brandt auch nur etwas davon ahnte.

Das hörte sich vor genau einem Jahr anders an, als die Richter einen Hauptkommissar des Bundeskriminalamtes (BKA) befragten. Der hatte den Mitangeklagten Holger G. vernommen. Der mutmaßliche NSU-Unterstützer habe berichtet, wie Brandt an einigen brisanten Gesprächen mit Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos teilnahm, in denen es um „den Einsatz von Gewalt im Kampf gegen das System“ ging. Der Fahnder fasste damals zusammen: „Wir gehen davon aus, dass Brandt die Anwendung von Gewalt befürwortete und unterstützte.“

Das deckt sich mit Recherchen unserer Zeitung. Thüringer Heimatschützer erzählen, wie Brandt sie ermuntert habe, „im Untergrund kleine Zellen zu bilden“. Er habe das Motto „eine Idee sucht Handelnde“ ausgegeben. „Taten statt Worte“ habe er gefordert. Der NSU, schrieben die Ankläger der Bundesanwaltschaft im November 2012 in ihre Anklageschrift gegen Zschäpe, der NSU habe sich als „elitäre Avantgarde eines um seiner selbst Willen . . . geführten terroristischen Vernichtungskampf gegen den Staat in seiner bestehenden Form“ empfunden. Ihre Handlungsmaxime sei in der Parole „Taten statt Worte“ zusammengefasst worden.

Zschäpes Gefühlsausbruch beginnt sich zu erschließen: Der Zeuge, der da von gewaltlosem Widerstand und politischen Veränderungen schwadroniert, hat mit großer Wahrscheinlichkeit Zschäpes Weg in den Terrorismus zumindest gefördert. Und ihre Anwälte raten ihr seit Prozessbeginn, zu schweigen. Selbst jetzt nichts dazu zu sagen, was der zum Gandhi von Rudolstadt mutierte Brandt da von sich gibt.

Vor dem warnte einer seiner Weggefährten die Ermittler erst im vergangenen Sommer. Den Heimatschutz habe Brandt nur mit dem Ziel gegründet, die rechte politische Szene zu militarisieren und für den bewaffneten politischen Widerstand aufzubauen. Das habe der schwergewichtige Rudolstädter ihm selbst erzählt. Einen militärischen Arm habe Brandt aufbauen wollen. Ein V-Mann, der den Thüringer Verfassungsschützern komplett aus dem Ruder gelaufen sei. Dabei habe es Schießübungen für einige aus Brandts Nazitruppe gegeben. Die Teilnahme hätte Brandt als „Linienvorgabe“ angeordnet. Den NSU, ist Kai D. überzeugt, hätte es ohne den Thüringer Heimatschutz nicht gegeben.

Diese Aussagen müssen auch Zschäpes Anwälte kennen, als Richter Manfred Götzl sie Tino Brandt befragen lässt. Pflichtverteidiger Wolfgang Stahl fragt hartnäckig nach, ob der Thüringer „nur Kamerad oder Freund“ der mutmaßlichen Terrortrios Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos war. Brandt weicht aus, antwortet schwammig, rutscht auf seinem Stuhl hin und her. Stahl setzt nach. Irgendwann stellt Brandt sein Verhältnis zu den Dreien als „richtige Freundschaft“ dar. Deutlich mehr als Kameradschaft. Für Zschäpe ein Desaster.

„Ich habe noch nie erlebt, dass ein Verteidiger einen Zeugen derart schlecht befragt hat“, sagt die erfahrene Gerichtsreporterin des Spiegel, Gisela Friedrichsen. Sie stellt den drei Zschäpe-Anwälten insgesamt ein schlechtes Zeugnis aus: „Die haben selten überzeugend agiert.“

Vieles spricht dafür, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Bis zum Ablauf dieses Freitags soll Zschäpe ihr Misstrauen gegen ihre Pflichtverteidiger schriftlich begründen, verlängerte das Gericht die ihr gesetzte Frist. Kaum zu erwarten, dass die Richter ihre drei Verteidiger von ihrem Mandat entbindet. Dann werden sie sich bald wiedersehen: Zschäpe, ihre Verteidiger und der friedliebende Tino Brandt.