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 Der Senat des Oberlandesgerichts stellte derweil erneut seine chaotische Verhandlungsführung unter Beweis: Sprang das Gericht bisher zwischen Fällen und Tatkomplexen thematisch hin- und her, so wurde jetzt sogar ein Zeuge unterbrochen.

München - Weiß-blauer Himmel, Sonne, Radlerinnen mit flatternden Röcken, Autos mit offenem Verdeck - ein wunderschöner Sommertag in der Nymphenburger Straße. Dass innen im Münchner Justizzentrum mit der Hausnummer 16 gerade eine der schlimmsten Mordserien der deutschen Rechtsgeschichte aufgearbeitet wird, machen sich sicherlich die wenigsten Passanten bewusst. Es ist der 31. Verhandlungstag im NSU-Prozess.

Trotz künstlichem Licht, schlechter Luft und zähem Prozedere im Beton-Gebäude sind an diesem Tag die Presse- und Zuschauerbänke gefüllt. Hat der Artikel einer Münchner Lokalzeitung die Massen wieder angezogen? Darin ist davon die Rede, dass die Anwälte von Beate Zschäpe in einem Münchner Luxushotel bei einer "Schampusparty" und bester Laune gesichtet worden seien. In der Sitzungspause holt Zschäpe-Verteidiger Wolfgang Heer die Zeitung hervor und liest den Artikel mit seiner Mandantin durch. Wildes Gestikulieren. Ist der Anwalt im Erklärungsnotstand? Zschäpe schaut jedenfalls übellaunig. Gescherzt wird diesmal, am vorletzten Sitzungstag vor der Sommerpause, zwischen Zschäpe und ihren Advokaten nicht.

Chaotische Verhandlungsführung geht weiter

Der Senat des Oberlandesgerichts stellte derweil erneut seine chaotische Verhandlungsführung unter Beweis: Sprang das Gericht bisher zwischen Fällen und Tatkomplexen thematisch hin- und her, so wurde jetzt sogar ein Zeuge unterbrochen, um einen weiteren terminlich dazwischenzuschieben. Am Morgen noch hatte der Erste Kriminalhauptkommissar Albert Vögeler vom K11 der Nürnberger Kripo zu zwei Nürnberger Morden ausgesagt. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl beendete die Vernehmung des Polizeibeamten dann jedoch plötzlich, um einen Zeugen aus Rostock vorzuziehen, der seine Wahrnehmungen zu dem Rostocker Mord an einem Imbissbesitzer schildern sollte. Der Zeuge hatte sich morgens offenbar verspätet. Nach der Mittagspause ging es schließlich mit dem Kripobeamten Vögeler weiter, der sogar noch einmal zu einem späteren Zeitpunkt vor Gericht erscheinen muss. Bei gefühlten 30 Grad im Saal A 101 schwirrte so manchem der Kopf.

Das Gericht wollte von dem Kommissar wissen, welche Erkenntnisse er über den Blumenhändler Enver Simsek hatte, der im September 2000 mutmaßlich von den beiden Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos regelrecht hingerichtet worden war. Simsek, so der Zeuge, betrieb einen Blumengroßhandel in Hessen und besaß dort auch einen Blumenladen sowie mobile Stände, davon einen in Nürnberg. Das war seine einzige Verbindung zur Noris. Offenbar lief das Geschäft über Simseks Ehefrau Adile. Der zweifache Familienvater Enver Simsek (38) selbst war arbeitslos gemeldet. Laut Vögeler gab es ein Finanzstrafverfahren gegen Simsek - auch wegen Steuerhinterziehung. Bei Kollegen habe der allseits beliebte und vermögende Blumenhändler als zielstrebig, arbeitsam und durchsetzungsfähig gegolten. Der strenggläubige Moslem sei als liebevoller Vater und Mensch ohne Feinde beschrieben worden. Die Kripo fand damals zunächst Ermittlungsansätze im Umfeld des Opfers, die sich später aber alle zerschlugen, wie der Beamte betonte. So hatte man seinerzeit wohl eine Telefonnummer bei Simsek gefunden, die laut Europol-Ermittlungen im Zusammenhang mit einem Rauschgiftstrafverfahren in England stand.

Fremdenfeindlicher Hintergrund? Darauf gab es keinen Hinweis

Die Kripo erhielt aber auch "verdeckte Informationen" , wonach Simsek auf der Liste eines Killers und Geldeintreibers stand. "Aussagebereite Kronzeugen" hätten Simsek ebenfalls belastet. Ein Liebesbrief im Lieferwagen des Opfers habe die Vermutung aufkommen lassen, dass er eine Freundin hatte. Aber die Hypothese von einer Eifersuchtstat erwies sich als völlig falsch.

Außerdem hätten die Fahnder den Eindruck gehabt, dass die Familie nicht alles preisgegeben habe, was sie wusste, sagte Vögeler. Deshalb sei die Technische Überwachung angeordnet und das Auto der Familie Simsek abgehört worden. Der Zeuge Vögeler berichtete aber auch, dass von der Witwe selbst Verdächtigungen geäußert worden seien, etwa die Möglichkeit einer Blutrache wegen einer alten Fehde in der Türkei. Schon früh habe Adile Simsek den Verdacht von Fremdenfeindlichkeit als Mordmotiv geäußert.

"Auch wir haben seit 2001 innerhalb der Soko über eine mögliche fremdenfeindliche Richtung diskutiert, aber keine konkreten Hinweise dafür gefunden", sagte der Zeuge. Ab 2005 habe sich herauskristalisiert, dass möglicherweise eine kleine, ideologisch geprägte, psychopathische Zelle hinter den Taten steckt.

Im Fall des 2001 in Nürnberg ermordeten türkischen Schneiders Abdurrahim Özüdogru wurde ebenfalls zunächst im nahen sozialen Umfeld ermittelt. Der Mann galt als gewalttätig gegenüber seiner Ehefrau. Der Familienvater hatte bei der Rüstungsfirma Diehl als Schichtarbeiter gut verdient. Die Schneiderei warf wenig Geld ab. Als bei der Spurensicherung im Auto und in Hartschalenkoffern des Opfers geringe Betäubungsmittelreste gefunden wurden, geriet auch er ins Fadenkreuz von Ermittlungen.

"Wie hoch ist der Anteil von Beziehungstaten bei einer Mordserie?"

Heute weiß Chefermittler Vögeler: "Das können auch Übertragungsspuren von anderen Personen gewesen sein". Der als konservativ geltende Türke Özüdogru hatte für die Armee seines Landes im Bekanntenkreis Geld gesammelt. Auch das machte die Polizei zunächst stutzig. Die Hypothese,dass sich die beiden Nürnberger Opfer gekannt haben könnten oder aber gemeinsame Bekannte hatten, war ebenfalls schnell widerlegt.

Nach der richterlichen Vernehmung Vögelers sind die Anwälte dran und dürfen den Beamten befragen. Auf welche konkreten Hinweise man nach zehn Morden an ausländischen Opfern denn noch gewartet habe, um fremdenfeindliche Motive zu erkennen, will ein Nebenklägeranwalt wissen. Richter Götzl will die Frage so nicht zulassen. Doch Vögeler antwortet: Man habe sich von den öffentlichen Fahndungen Aufklärung erhofft sowie vom Staatsschutz - "aber da kam nichts".

Ein Verteidiger will von Kommissar Vögeler wissen, wie hoch der Anteil von Beziehungstaten bei Tötungsdelikten ist. "60 bis 70 Prozent ", weiß der Polizist. Ein Nebenklägeranwalt kontert: "Und wie hoch ist der Anteil von Beziehungstaten bei einer Mordserie?" Die Antwort dürfte Null Prozent lauten.