Der frühere Präsident des baden-württembergischen Landesamtes für Verfassungsschutzes, Helmut Rannacher, im baden-württembergischen Landtag vor dem NSU-Untersuchungsausschuss. Im Ausschuss räumt er ein Versagen seiner Behörde beim rechtsterroristischen NSU ein: Die Sicherheitsbehörden hatten das Treiben der Rechtsextremisten über Jahre hinweg nicht bemerkt. Foto: dpa

Im NSU-Untersuchungsausschuss verwirrt Ex-Verfassungsschutzchef Helmut Rannacher mit dubiosen Rechenspielen. Ein Kriminalhauptmeister namens Mario Melzer ist derweil vielen unbequem geworden.

Stuttgart - Seine Ellbogen hat der Kriminalhauptmeister Mario Melzer auf die Knie gestützt. Die Hände umklammern ein Mikrofon, als wolle er sich irgendwo festhalten. Als müsse er Sicherheit am Freitagabend in Reutlingen finden. Die braucht der Ermittler des thüringischen Landeskriminalamtes auch dringend: Für Vorgesetzte und Politiker ist er unbequem geworden.

Jahrelang hat er zur Neonazi-Truppe „Thüringer Heimatschutz“ recherchiert. Hat deren bekannteste Mitglieder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe vernommen. Das Verfahren so vorangetrieben, dass das Trio 1998 samt seiner Kumpane hätte festgenommen werden können. Doch dann stellte die Staatsanwaltschaft Gera das Verfahren ein. Viele Experten sind sich einig: Wären die Staatsanwälte damals Melzers Ermittlungen gefolgt, es hätte keine NSU-Morde gegeben. Die Gründe für die Einstellung des Verfahrens sind zumindest in den Akten nicht nachvollziehbar.

Dafür die Folgen dieser Entscheidung: Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe tauchen ab, während Polizisten ihre Garage durchsuchen und eine Werkstatt finden, in der Bomben gebaut werden. Das Trio sollte fortan 13 Jahre lang als Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) durch Deutschland ziehen. Mordend, bombend, raubend – sagt der Generalbundesanwalt.

Seitdem Melzer über seine Ermittlungen in Untersuchungsausschüssen spricht, sehen ihn Vorgesetzte lieber mundtot. Dabei, so fragt der Polizist, versteht er nicht, was daran falsch ist: offen die Fehler der Sicherheitsbehörden zu diskutieren, die sie bei der Fahndung nach den mutmaßlichen Rechtsterroristen gemacht haben. Der Bundespräsident und die Kanzlerin, „wollen das alles schonungslos aufklären, sagten sie. Da kann ich doch nicht zu viel sagen“, erklärt Melzer.

Die Grenzen der „schonungslosen Aufklärung“

Offenbar schon. Nicht nur in Thüringen. Wer die Sitzungen des NSU-Untersuchungsausschusses in Baden-Württemberg verfolgt, erkennt schnell die Grenzen der „schonungslosen Aufklärung“, die Angela Merkel und Joachim Gauck zugesichert haben. Wenn zum Beispiel der frühere Präsident des Südwest-Verfassungsschutzes zum rassistischen Geheimbund Ku-Klux-Klan (KKK) aussagt. Erstmals will seine frühere Dienststelle im Herbst 1998 durch eine Internetrecherche von der Kapuzentruppe erfahren haben. Bis zum Sommer 2000 habe man nichts Konkretes gewusst, beteuert Helmut Rannacher.

Der Grünen-Abgeordnete Jürgen Filius legt dem Pensionär ein Dokument vor, in dem auch die Südwest-Geheimen im Frühjahr 1998 vor einer Reisewelle deutscher Neonazis in die USA gewarnt werden. Dort wollten die sich von US-Klan-Größen zu KKK-Anführern machen lassen. Rannacher will das Fax nicht kennen. Ein Dokument, in dem die Polizei Schwäbisch Hall im März 1999 von einer Klangruppe berichtet. Dort werden Namen von Mitgliedern aufgelistet, unter ihnen der eines V-Manns der Verfassungsschützer. Rannacher kennt das Fax, kann aber nicht mehr nachvollziehen, warum der Führungsoffizier des V-Mannes diese Info nicht 1999 von seinen Vorgesetzten erhielt. „Ich habe erst vor wenigen Wochen in der Zeitung gelesen, dass es 1999 diesen Bericht der Polizei in Schwäbisch Hall gab“, so V-Mann-Führer Harald Schaffel.

Weiter: eine Information des Dienstes Mecklenburg-Vorpommerns von 1996, in dem vor einer Stuttgarter Klangruppe unter Führung des Neonazis Markus Frntic gewarnt wird. Rannacher kennt ihn nicht.

Dafür keilt er gegen jeden, dem sich die eigentümlichen Sichtweisen seines Amtes nicht erschließen. Der nicht versteht, dass er der um Hilfe bittenden Polizei Informationen zum KKK vorenthält. Den Ermittlern die Neonazi-Reisewelle ebenso verschweigt wie dem eigenen V-Mann, der die Rassistentruppe anführt. Bis heute hat der Dienst selbst bei Anfragen von Journalisten dafür eine geradezu putzige Begründung: Zwar sei die Quelle Mitglied im KKK gewesen, aber zu diesem Zeitpunkt seitens des Verfassungsschutzes nicht zur Nachrichtengewinnung im Klan geführt worden.

Anders ausgedrückt. Zwar sind Mund und Zeigefinger des Fünfjährigen schokoladenverschmiert. Aber am Pudding hat er deswegen nicht genascht, weil er den nur vom Mittelfinger abschlecken darf. Nur so erschließt sich auch die Arithmetik der Agenten: Sie hätten binnen weniger Wochen ihren V-Mann abgeschaltet, als sie von dessen KKK-Aktivitäten im Sommer 2000 erfuhren. Das passierte dann im November 2000 – 19 Monate nach dem Hinweis der Schwäbisch Haller Polizei. Damit alles passt, wird dieser galant ignoriert. So werden aus 19 Monaten Wissen des Verfassungsschutzes um das Doppelleben seines V-Manns und KKK-Anführers „wenige Wochen“ bis zu dem Tag, an dem die Geheimen ihre Quelle abschalteten.

Diese Mathematik scheint selbst dem Ruheständler Rannacher mehrmals bei seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss nicht geheuer zu sein: „Ich weiß, Herr Vorsitzender, das hört sich jetzt merkwürdig an.“ S

chonungslos und umfassend würden die Morde an acht türkisch- und einem griechischstämmigen Kleinhändler und der Polizistin Michèle Kiesewetter aufgeklärt. Das hatten Bundespräsident Gauck und Kanzlerin Merkel den Hinterbliebenen und den Deutschen versprochen.