Szene aus Maged Mohameds „Paradise“, das am Mittwoch im Schauspielhaus in Stuttgart aufgeführt wurde Foto: Stuttgarter Ballett

Die Choreografen-Abende der Noverre-Gesellschaft sind längst zum Markenzeichen geworden. Bei der neuen Auflage beim Abend „Junge Choreografen“ am Mittwoch im Schauspielhaus reisten die Künstler bis aus Finnland an, um ihre Tanzstücke durch eine Uraufführung in Stuttgart zu adeln.

Stuttgart - Voll besetzt ist das Schauspielhaus; wie jedes Jahr ist das Stuttgarter Ballettpublikum neugierig auf die nächste Generation „Junger Choreografen“. Viele der großen Stars von heute machten bei den Noverre-Abenden ihre ersten Schritte – wer will da bei den Stars von morgen nicht dabei sein?

Dass in diesem Jahr unter den zehn Künstlern mehr Gäste als Stuttgarter Gewächse zu erleben waren, hat vor allem einen Grund: Die Premiere des Abends „Strawinsky heute“ bündelte beim Stuttgarter Ballett so viel Energie, dass der frühe Termin des Noverre-Abends den eigenen choreografischen Nachwuchs etwas ausgebremst hat.

Die Enttäuschung über den neuen Ballettabend, der mit einem großen Namen nicht automatisch große Kunst garantierte, war unter den Ballettfans nach wie vor Gesprächsthema. Der neue Choreografen-Abend war da ein perfekter Schlussstrich: Strawinsky war gestern, Noverre ist heute. Und eine der vielen Lektionen, die dieser kurzweilige Abend mit neun Uraufführungen erteilte, war die: Choreografisches Talent und Wissen ist in Stuttgart so geballt vorhanden, dass der Ballettintendant gar nicht in die Ferne schweifen muss.

20 Jahre Intendant in Stuttgart

Plant Reid Anderson für die nächste Saison eine Gala? Dann wird er 20 Jahre Intendant in Stuttgart sein, ein Jubiläum, das gefeiert werden will. Der Noverre-Abend könnte ihm Tanzstoff liefern: Fabio Adorisio, der 2014 bereits mit dem groß besetzten „Ansia“ verblüffte, zeigt mit „in2“, dass er auch intime Szenen mit starkem Tanz füllen kann. Catelijne Smit am Flügel begleitet Rachele Buriassi und Alexander Jones. Präzise und klar wie die minimalistischen Klänge von Philip Glass, aber doch mit nachdrücklicher Energie dem Körper abverlangt sind die aus dem Klassischen entwickelten Bewegungen dieser Begegnung. Instrument, Raum, Partner: „in2“ stellt mit beeindruckenden Interpreten ein schönes, fragiles Gleichgewicht her.

Wiedersehen möchte das Publikum auch diese beiden: Robert Robinson und Theophilus Vesleý, der Große aus Stuttgart, der Kleine aus Augsburg, erzählen mit vielen Einfällen und Witz von den Energien, die in einer Freundschaft fließen. „Zweisamkeit“ heißt der Hit, der Nähe sucht und sie zu Ane Bruns Beatles-Interpretation „From Me To You“ doch wieder in Frage stellt. Ein charmantes Duett, das wie Rolando d’Alesios „Come neve al sole“ so prägnant Zwischenmenschliches beleuchtet, dass ihm bestimmt ein ähnlicher Siegeszug bevorsteht.

Gala-Futter hat auch Guillaume Hulot angerichtet: Der Franzose mit Tänzer-Vergangenheit in Mannheim und Mainz lässt Anna Osadcenko und Jason Reilly erst wie Glühwürmchen im Dunkeln leuchten, dann schickt er sie mit Mozarts Hilfe auf die Suche nach einer klassischen Variation. „Who Stays Lasts“ heißt ihr Fund, der Körper kantig verwinkelt oder wie Aerobic-Material weich ins Spiel bringt.

Finnisches Ballett und Cranko-Schüler

Vom finnischen Staatsballett kommt Emrecan Tanis, sein Pas de deux „Carry Me Shadow“ trägt Schatten nicht nur im Titel: Fantasy-finster lässt er die Stuttgarter Herren Özkan Ayik und Adam Russell-Jones aus dem Nebel auftauchen. Im alle Kräfte fordernden Zweikampf, der aus der Kunst Gesten borgt, prallen Körper so sanft aufeinander, dass es am Ende nur Gewinner gibt.

Aus dem Dunkeln heraus gestaltet auch Alexander McGowan sein Stück „Non ducor, duco“, das den Abend im Schauspielhaus eröffnet. Wie eine Fortsetzung seines Debüts „In For The Thrill“ wirkt es nicht nur wegen der Besetzung mit Angelina Zuccarini und Nicholas Jones, die er nun selbst verstärkt. Anleihen beim Breakdance geben dem Trio einen jungen Look, und doch gelingt dem Texaner zur Klaviermusik von Yann Thiersen mit großer Präzision in den Gesten eine anrührende Nachdenklichkeit, indem er Menschen durch den Tanz ganz bei sich sein lässt.

In Eisenach tanzt der ehemalige Cranko-Schüler Hector Ferrer Fernandez, nun kehrt er mit dem Pas de deux „Let Me Fall“ zurück. Agnes Su und Adam Russell-Jones macht er zu Cello-Klängen zu seinen Instrumenten, weich dehnt er ihre Bewegungen in den Raum und schafft es, die Symbolik seiner Gleichsetzung nicht überzustrapazieren.

Liebes- und Sündenbekenntnisse aus dem Off

Zu viel Text mutet dagegen Robbie Bird uns zu, nicht nur im Titel seines Pas de deux: In „A Disaster of Exquisite Proportions“ setzt der Gast aus England Paula Rezende und Ludovice Pace samt anmutiger Ballettsaal-Übungen in sperrigen Kontrast zu Liebes- und Sündenbekenntnissen aus dem Off.

„Sin“ heißt passend dazu Roger Cuadrados Pas de deux, der mit dem Gast Claudia Faubel und seinem Stuttgarter Kollegen Fabio Adorisio zu einem sehnsuchtsvollen spanischen Lied Gefühle und Tanz mit schön pendelnden Hebungen auf die Spitze treibt.

Ironisch zugespitzt blickt zum Schluss Maged Mohamed auf Geschlechterbeziehungen. Vom Bayerischen Staatsballett hat der Ägypter sechs Kollegen mitgebracht (und den Direktor Ivan Lisca im Publikum) und zeigt uns zu arabischen Klängen ein Paradies, das keines ist: Alicia Amatriain machen die Herren aus Tausendundeiner Nacht mit Schleier und Strauß zur Braut, doch die hat vor allem Lust auf ausdrucksstarke Ausbrüche.

Und nachdem die Stuttgarter Starsolistin am Ende ihren Strauß weggeworfen hat und sich alle zehn Choreografen nochmals verbeugen, erteilt dieser Noverre-Abend eine letzte Lektion: Dass sich keine Frau unter den Choreografen findet, ist schade. Da bräuchte es dringend jemanden, der den Stuttgarter Damen mehr Mut macht. Vielleicht Reid Anderson, indem er die Noverre-Entdeckung Katarzyna Kozielska noch stärker als Vorbild fördert.