Die Stadt Stuttgart hat die ersten drei von fünf Turnhallen mit Flüchtlingen belegt. Dabei wird es kaum bleiben. Doch bereits nach wenigen Tagen regt sich Protest bei den neuen Bewohnern – denn ihre Situation wird sich auf Monate hinaus nicht ändern.

Stuttgart - Vor der Turnhalle des Solitude-Gymnasiums in Weilimdorf jagen Flüchtlingskinder einem Ball nach. Auf dem Fußweg gehen ein paar Schüler vorbei, bleiben kurz stehen und äugen neugierig zu den neuen Nachbarn hinüber. Seit Mittwoch leben die ersten 160 Menschen in der Halle, 240 sollen es in den nächsten Tagen werden. Viele Familien sind eingezogen, die meisten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Sie bekommen am Donnerstag hohen Besuch. Oberbürgermeister Fritz Kuhn will sich ein Bild von der Lage in der Notunterkunft machen – und bekommt wohl mehr zu hören, als er vorher erwartet hatte.

Denn kaum hat Kuhn die Halle betreten, umringen ihn mehrere Flüchtlinge. Wollen dem Stadtoberhaupt die Situation schildern. Sie übernachten in Stockbetten, jeweils sechs Schlafplätze sind in den Bereichen, die durch abgehängte Baustellengitter getrennt sind. Darüber hängen Basketballkörbe. „Die meisten Leute waren geschockt, als sie das hier gesehen haben“, sagt Muhamed Waseem, Englischlehrer aus dem syrischen Aleppo. Manch einer habe in den Ersteinrichtungen schon ein Zimmer gehabt und müsse jetzt im Notquartier leben. Man befürchte, dass sich die Kinder mit Infektionskrankheiten ansteckten, es sei kalt, gebe keine Privatsphäre und zu wenig sanitäre Einrichtungen.

„Wir sind hier sicher und danken Ihnen dafür, dass Sie uns aufnehmen. Aber wir fühlen uns auch etwas gedemütigt“, sagt Waseem. Dazu trägt die unklare Informationslage bei. „Immer wieder fragen wir, wie lange wir hier bleiben müssen, aber es gibt keine Antworten“, klagt der 33-Jährige.

Die meisten werden für Monate in den Turnhallen bleiben müssen

Kuhn hört geduldig zu. Und versucht, die Lage zu erklären. „Wir versuchen unser Bestes, aber wir müssen die Leute jetzt an solche Plätze bringen“, so der Oberbürgermeister. Er könne nicht sagen, ob es für zwei, drei oder mehr Monate sein werde. Konkreter wird da Sozialamtsleiter Stefan Spatz. „Wir können keine Zusagen machen, aber wir werden versuchen, die Leute nicht während des gesamten Asylverfahrens in den Notbelegungen zu lassen“, sagt er. Die Perspektive ist dennoch bedrückend: Vor Frühsommer, glaubt Spatz, werde man die wenigsten verlegen können. Zumal die Stadt versuchen will, die Menschen im selben Stadtbezirk zu belassen, um bis dahin gewachsene Kontakte nicht zu zerstören. Für viele der geflüchteten Familien bedeutet das mindestens ein Dreivierteljahr in der Halle. „Wir müssen den Leuten sagen, dass sie keine Wunderdinge erwarten können. Entscheidend ist, dass sie schnell Möglichkeiten bekommen, sich zu betätigen“, so Kuhn.

250 Freiwillige aus Weilimdorf haben bereits erklärt, den ankommenden Menschen dabei zu helfen. In der nächsten Woche sollen die ersten Sprachkurse beginnen, auch eine Fahrradwerkstatt wird es geben. Die Stimmung im Ort sei positiv, und auch an der Schule nebenan nimmt man die Situation gelassen. „Wir können unseren Sportunterricht wie geplant anbieten – nur in anderen Hallen“, sagt Schulrektor Bruno Stegmüller. „Der Beitrag, den unsere Schüler zur Flüchtlingsproblematik leisten, ist also, sich bereits vor dem Sportunterricht zu bewegen.“ Ob es Alternativen für den Sportunterricht gibt, werde bei der Auswahl der Notunterkünfte berücksichtigt, bekräftigt auch Kuhn.

Ein paar Kinder rollen auf Inlinern durch die Halle, an den Tischen sitzen Familien über Malbücher gebeugt. Ein wenig Normalität in der Ausnahmesituation. Doch wie lange es unter den Flüchtlingen angesichts der Situation in den Turnhallen ruhig bleibt, ist offen. Zumal das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht sein dürfte. Die Hallen in Hedelfingen und Obertürkheim sind ebenfalls bereits mit insgesamt 228 Menschen belegt. In der nächsten Woche sollen die Hallen der Raichberg-Realschule (Ost) und der Grundschule in Birkach folgen. Was danach folgt, ist offen – angesichts der Flüchtlingszahlen im Land könnten auf die Stadt noch höhere Zuweisungen zukommen. Mit weiteren Turnhallenbelegungen ist daher zu rechnen. „Wir überlegen uns ständig neue Möglichkeiten, aber wie es weiter geht, weiß keiner“, sagt Sozialamtsleiter Spatz. Die Zuweisungen vom Land kämen so kurzfristig, dass oft kaum Zeit zum Reagieren bleibe.

Hintergrund

Flüchtlingsunterkünfte

Derzeit leben 5200 Flüchtlinge in Stuttgart – die Zahl steigt praktisch täglich. Bleibt es bei den derzeitigen monatlichen Zuweisungen des Landes, könnten es bis zum Jahresende rund 9000 sein.

Angesichts der großen Zahl muss die Stadt vom sogenannten Stuttgarter Weg abweichen. Er besagt, dass man Asylbewerber in möglichst kleinen Unterkünften quer übers Stadtgebiet verteilt unterbringen will. Bis Jahresende fehlen jedoch noch zahlreiche Plätze. Deshalb sollen in den nächsten Wochen mehrere leer stehende Schulgebäude, Waldheime und weitere Turnhallen bezogen werden.

Der Gemeinderat muss zudem noch den geplanten Standorten für weitere Systembauten und Container mit insgesamt 2148 Plätzen zustimmen. Die Container könnten bereits im Januar und Februar bezugsfertig sein – und zwar im Degerlocher Sportgebiet Waldau, auf dem ehemaligen Messeparkplatz Rote Wand auf dem Killesberg sowie in Heumaden. Die deutlich kompakteren Systembauten brauchen mehr Zeit für Lieferung und Aufbau. Sie sollen im Laufe des nächsten Jahres an sechs weiteren Standorten in Birkach, Feuerbach, Münster, Obertürkheim sowie im Fasanenhof und im Osten stehen. (jbo)