Hauptsache verschönern – egal wie.Egal wie – Hauptsache schöner. Foto: Mor Arkadir

Künstler der Wagenhallen wollen mit internationaler Hilfe das Nordbahnhofviertel verschönern.

Stuttgart-Nord - Die Kunst ist, einmal anders zu denken. Geld haben sie nicht, jedenfalls noch nicht. Die Zuschussanträge liegen bei allen erdenklichen Organisationen, die Antworten fehlen noch. Aber „wir rödeln schon“, sagt David Baur. Konkret beschrieben bedeutet dies: Wer ihn sprechen will, kann ihn genauso gern morgens um sieben wie nachts um elf anrufen.

Unter Umständen rödeln er und die anderen vergeblich, denn ohne Geld wird nichts aus dem, was die altehrwürdige New York Times als „Guerilla-Architektur“ beschrieb – das ist nicht im Sinne von Terrorismus gemeint, sondern durchaus respektvoll. Würden sie noch nicht rödeln, wären sie niemals rechtzeitig fertig, bis Juli. Ohnehin ist doch das Wesen von Experimenten, dass sie misslingen können.

Baur ist Künstler, einer von den rund 70, die sich in den Wagenhallen im Nordbahnhofviertel einquartiert haben. Denen hat der Gemeinderat offiziell sein Wohlwollen erklärt. Nach anfänglichem Argwohn ist man im Rathaus ein wenig stolz, dass die Schwaben-Hauptstadt jetzt auch eine Art Kreativ-Biotop hat, das bundesweit bekannt ist, nicht immer nur Berlin oder Hamburg oder auch mal Tübingen. Baur zieht den Reißverschluss seines Rollkragenpullovers hoch. So weit geht das Wohlwollen auch wieder nicht, dass der Gemeinderat das Geld dafür spendieren würde, in Stuttgarts Künstler-Biotop eine Heizung einbauen zu lassen.

Der Erfolg anderen Denkens soll sichtbar werden

Den Künstlern geht es darum, den Erfolg anderen Denkens sichtbar zu machen. Dazu brauche man zunächst ausreichend heruntergekommene Orte, sagt Baur, aber nicht so sehr heruntergekommen, dass sie schon wieder gut seien. In die zweite Kategorie fallen für ihn die Wagenhallen selbst, „im Bermuda-Dreieck zwischen Friedhof, Müllabladeplatz und Baustelle“.

Von der ersten Kategorie gibt es im Nordbahnhofviertel genügend. „Das Quartier hat’s nötig“, sagt Baur. Das beginnt für ihn gleich mit dem Zentrum, der Nordbahnhofstraße. „Totsaniert“, lautet sein Urteil, „früher, als noch die alte Straßenbahn fuhr, war das ein Ort wie im Urlaub“. Um wenigstens einen Teil der Urlaubserinnerung wieder zu wecken, sollen im Juli 100 bis 150 Menschen aus aller Welt anreisen. Handwerker, Künstler, Philosophen – jegliche Profession erscheint tauglich. Wer, außer vielleicht den Architekten, sagt, dass Architektur nur Architekten schaffen dürfen? Arbeitsgruppen bekommen 2500 Euro samt der Aufgabe, einen jener Orte zu verschönern. Wie? Egal. 72 Stunden Kopf- und Körperarbeit später – mehr Zeit ist nicht – sieht das Quartier rund um den Nordbahnhof anders aus. Das ist der Plan.

Vorbild ist ein seelenloser Vorort von Tel Aviv

Dass er funktioniert, ist bewiesen, in Bat Yam, einem der seelenlosen Vororte der israelischen Metropole Tel Aviv. Dort wurde die Aktion namens „72 hours urban action“ erdacht und im Herbst 2010 erprobt. Das war der Anlass, zu dem die New York Times das Wort von der Guerilla-Architektur erfand.

Nun also der Nordbahnhof in Stuttgart, die Stadt, in der „ich so oft höre: Das geht nicht“, sagt Baur. Er hat ja für vieles Verständnis: für Zwänge im Rathaus, dafür, dass es besser ist, Kulturetats zu kürzen, als an Krankenhäusern zu sparen. Er pfeift drauf, dass der neue Bahnhof „superhässlich wird“ und dass im Park die Bäume fallen. „Das gibt ein fettes Bildhauersymposium“, sagt er. „Ich hab’ mich sofort um das Holz beworben.“ Man müsse eben nur anders denken. „Nur wenn mir einer von der Stadt sagt, das geht nicht, dann krieg ich ´nen Hals“. Gelegentlich muss man dann einfach selber machen, egal was, und wenn „man einen Kaugummiautomaten aufstellt, weil man findet, da gehört einer hin“.

Das ist der tiefere Sinn der 72-Stunden-Aktion: zu zeigen, dass es eben doch geht, nicht den Neinsagern im Rathaus, sondern so vielen Stuttgartern wie möglich. Publikum ist selbstverständlich erwünscht, am liebsten Stammpublikum, das an allen drei Tagen von Station zu Station pilgert, um nicht nur am Ende zu sehen, was entstanden ist, sondern um vor allem zu sehen, wie einfach etwas entsteht, wenn man es selber macht. Denn Baur sieht das Happening nicht als Guerilla-Architektur – „das ist ein Bildungsangebot“, sagt er. Eine Art Seminar: wir basteln uns eine bessere Stadt. Allerdings ist da eben noch die Sache mit den Zuschussanträgen. Sie brauchen Liegen, auf denen 150 Menschen übernachten können, sie brauchen eine Küche, um alle zu verköstigen. Für die gibt es immerhin schon einen Plan, nicht für irgendeine Küche, für eine in Containern. Die Franzosen haben die Pläne gezeichnet, eine Gruppe, die vergangene Woche da war. Und wenn alles nichts wird? So darf man nicht denken. Sondern so: „Wenn es läuft“, sagt Baur, „laufen wir eine Woche lang rum wie im Rausch“.