Martin Stürner hat für uns den Praxistest gemacht – Klicken Sie sich durch unsere Bildergalerie. Foto: Peter-Michael Petsch

Unser Test offenbart Mängel im Neubau. Hochbauamt verspricht Nachbesserungen.

Stuttgart - Martin Stürner hört gerne Bücher. Isabel Allende ist seine Lieblingsautorin. Aber auch Biografien interessieren ihn. Das Hören ist Martin Stürners Sehen. Denn der 48-Jährige ist seit seinem 15. Lebensjahr blind. Lediglich starke Kontraste kann er noch erkennen.

Die Stadtbibliothek am Mailänder Platz führt knapp 5000 Hörbücher. „Für eine städtische Bibliothek ist das ein beachtliches Angebot“, sagt Stürner. Genutzt hat er es bisher noch nicht. Bis zur Ausleihe würde er es ohne Hilfe auch nicht schaffen. Gemeinsam mit unserer Zeitung war Stürner, Sprecher der Bezirksgruppe Böblingen des Blinden- und Sehbehindertenverbands Baden-Württemberg, in der neuen Stadtbibliothek.

Zu den Aufzügen findet Stürner nur mit Hilfe

Viel Betrieb ist an diesem Abend am Mailänder Platz. Die großen Glastüren schwingen auf und zu. Martin Stürner steht im Eingangsbereich der Bibliothek. In der Hand hält er einen weißen langen Stock. Die Infotheke liegt zu seiner Linken. Martin Stürner kann das nicht sehen. „Ich würde nach Hilfe fragen. Doch ohne Orientierungspunkte habe ich keine Chance.“

Am 24. Oktober 2011 wurde das Gebäude eröffnet. Barrierefrei nach der DIN-Norm soll es sein. Das sind die verbindlichen Bauvorschriften für öffentliche Gebäude wie Schulen, Museen und eben auch Bibliotheken. Knapp 76 Millionen Euro hat der Bibliothekswürfel gekostet, zu dem die Planungen schon 1999 begonnen hatten. Vor der Bauphase habe man sich mit dem Dachverband Integratives Planen und Bauen e. V. zusammengesetzt, um die Vorschriften zum barrierefreien Bauen zu beachten, betont Gregor Gölz vom Hochbauamt. Rollstuhlgerechte Zugänge, automatische Türöffner und niedrige Ausleihapparate wurden eingeplant. Mittlerweile funktionieren sie auch. An anderer Stelle gab es allerdings Versäumnisse.„Barrierefrei ist eben nicht gleich barrierefrei“, sagt Stürner. „Ein Rollstuhlfahrer hat andere Bedürfnisse als wir Sehbehinderten.“

Nur mit Hilfe gelangt er zu den Aufzügen. Dazu muss er vom Haupteingang einmal durch den quaderförmigen Raum der Stille. Eun Young Yi, der Architekt der Bibliothek, hatte ihn als einen Ort der Entschleunigung konzipiert. Ein flacher Brunnen ist in den Boden des Raums eingelassen. Stürner ertastet die Kanten mit seinem Stock. „Eine Stolperfalle ist das trotzdem“, sagt er und weicht dem blauen Nass aus.

Problematischer wird es an den Aufzügen. Zwei Fahrstühle waren zunächst eingebaut. Auf einen dritten mussten die Benutzer aus finanziellen Gründen verzichten. Es wurde nachgerüstet. Seit Ende Juni ist nun der dritte Fahrstuhl in Betrieb. Die Kosten betrugen 400 000 Euro. Behindertengerecht sind die Aufzüge dennoch nicht, stellt der blinde Stürner fest. Er möchte in den 6. Stock. Dort gibt es Hörbücher, Hörspiele und ein Lesegerät, das Buchseiten 104-fach vergrößert.

Fahrstuhl ohne Ansage – für Blinde nutzlos

Den Knopf zwischen den Fahrstühlen ertastet er schnell. Der linke Aufzug öffnet sich. Kein Signal. Stürner steht vor dem rechten Fahrstuhl. Einen Moment bleibt der 48-Jährige ratlos stehen. Aus der Kabine treten drei Frauen. Sie unterhalten sich mit gedämpfter Stimme. „Ohne die Wortfetzen dort hätte ich nicht erahnen können, welche Türe sich geöffnet hat“, erklärt der Blinde.

Die DIN-Vorschrift 18024 - 2 für barrierefreies Bauen sieht vor, dass die „Nutzer in die Lage versetzt werden, von fremder Hilfe weitgängig unabhängig zu sein“. Akustische Signale in Aufzügen werden empfohlen. „In den meisten Fahrstühlen ist das heute schon Standard“, bestätigt Stürner. Er betritt die Kabine. Die Ziffern auf den Knöpfen stehen hervor. Die Anordnung ist nicht von links nach rechts, sondern von oben nach unten. Er benötigt einen Moment, bis er die Sechs ertastet hat. Ziffern in Brailleschrift, der erhabenen Punktschrift für Blinde und Sehbehinderte, fehlen. „Das ist schlecht“, findet Martin Stürner. Viele Geburtsblinde haben die Schwarzschrift, so werden die lateinischen Buchstaben und arabischen Ziffern genannt, nie erlernt. „Ich bin im Vorteil. Da ich erst mit 15 erblindet bin, kann ich normale Ziffern lesen“, erklärt der 48-Jährige.

Der Aufzug hält im dritten Stock. Personen treten ein. Martin Stürner ist verwirrt. Auch im Aufzug gibt es keine Ansage, wo der Fahrstuhl hält. „Alleine könnte ich hiermit nie fahren“, stellt er fest. Gregor Gölz vom Hochbauamt bestätigt auf Nachfrage, dass akustische Signale und Brailleschrift im Aufzug im Gespräch waren, man sich letztlich aber dagegen entschieden habe. „Wir können über eine Nachrüstung nachdenken. Allerdings muss man dann auch überlegen, ob sich die übrigen Bibliotheksnutzer nicht gestört fühlen“, sagt Gölz.

Ausleihen ist für Sehbehinderte allein nicht möglich

Auch bei der Suche nach einem geeigneten Hörbuch ist Stürner auf die Hilfe des Bibliothekspersonals angewiesen. Ein Audiokatalog oder eine Übersicht in Punktschrift liegen nicht vor. Modern, aber ebenfalls problematisch ist der Ausleihstand. Über einen Bildschirm, der auf Berührungen reagiert, kann man die Medien selbst buchen. „Für Sehbehinderte ein großes Hindernis“, findet Stürner.

Die Bibliotheksdirektorin Ingrid Bussmann zeigt Verständnis: Man wolle sich der Sache annehmen, soweit „man als Mieter dazu in der Lage ist“. Die Zielgruppe der Blinden sei bei der Planung nicht in ihrem Fokus gewesen, gibt Bussmann zu. Die Nachfrage sei zuvor aber auch nie da gewesen. Ausgerichtet sei ihre Bibliothek für Sehbehinderte, nicht für Blinde. Den Arbeitsplatz für Sehbehinderte habe man extra eingerichtet.

Doch auch Menschen, die in ihrem Sehen eingeschränkt sind, stoßen auf Probleme. Der Innenraum der Bibliothek ist in Grautönen gestaltet. Puristisch und reduziert. Zurückhaltend war der Architekt Yi allerdings auch mit kontrastreichen Hinweisen. „Die sind für Sehbehinderte enorm wichtig“, sagt Stürner. Deutliche Markierungen an den Treppenstufen fehlen, die Piktogramme an den Toiletten sind verschwindend klein. Ein Behinderten-WC gibt es im Untergeschoss. Die Türe lässt sich allerdings nur mit viel Kraft öffnen. Das Problem sei bekannt, sagt Ingrid Bussmann. Sie hofft, diese Mängel im nächsten Jahr gemeinsam mit dem Hochbauamt und dem Amt für Liegenschaften angehen zu können.

Für Martin Stürner ergibt sich ein ernüchterndes Bild. Natürlich gebe es Hörbibliotheken für Blinde. „Aber eine neue Bibliothek, die so gut mit Hörbüchern ausgestattet ist, sollte auch für mich zugänglich sein.“ Das sei für ihn keine Frage der Zielgruppe, sondern eine Frage der Gleichberechtigung.