1375 Gramm wiegt im Durchschnitt das Gehirn eines erwachsenen Mannes, das einer Frau 1245 Gramm. Der Gewichtsunterschied hat keinerlei Auswirkungen auf die Intelligenz. Das Frauengehirn bringt die gleiche Leistung bei weniger Gewicht. Der vollständige Kopf wiegt übrigens etwa sechs Kilogramm. Foto: Fotolia/© sudok1

Die Neurochirurgie gilt als gefährlichstes Gebiet der Medizin. Machen Ärzte hier Fehler, kann das zu Lähmungen, Koma und Tod führen. Der englische Neurochirurg Henry Marsh hat 8000 menschliche Gehirne operiert. In seinem Buch erzählt er, was er bei seiner Arbeit so alles angerichtet hat.

Herr Marsh, wenn Sie einen Schädel öffnen: Wie sieht das menschliche Gehirn aus?
Meistens sehe ich es durch ein Operationsmikroskop, ein Gerät, das ich aufrichtig liebe. Ich bin so gewohnt, es zu benutzen, dass es sich anfühlt wie ein Teil von mir. Ich habe nie Computer gespielt, aber das Operationsmikroskop erschafft so etwas wie eine virtuelle Realität. Man hat das Gefühl, im Gehirn zu sein, durch Gänge ans Ziel zu kriechen.
Was sehen Sie dort?
In seinem Innern ist das Gehirn nicht besonders interessant, es sieht aus wie weißes Gelee. Aber wenn man zum Beispiel unter dem Gehirn ist, dann blickt man auf schimmernde, tiefblaue Hirnvenen, ein Geflecht, das wirkt wie das Dach einer Kathedrale.
Ist es ein erhabener Augenblick, wenn man in das Organ schaut, in dem unser Bewusstsein entsteht?
Man gewöhnt sich dran. Wenn man ein Gehirn anschaut, lernt man nichts darüber, was wichtig ist im Leben. Aber als Arzt, der mit Gehirnproblemen zu tun hat, erkennt man: Was wir denken und fühlen, ist Elektrochemie.
Erstaunlicherweise kann das Gehirn keinen Schmerz empfinden – warum?
Das Gehirn kann nicht wehtun, weil es keine Schmerzrezeptoren hat. Wenn man Schmerz im Gehirn spüren wollte, bräuchte man ein anderes Gehirn irgendwo, das diesen Schmerz spüren könnte.
Können Sie das genauer erklären?
Je mehr man über Schmerz nachdenkt, desto seltsamer ist er. Wenn ich mir in den Finger kneife – dann ist der Schmerz nicht im Finger. Er entsteht erst im Gehirn. Wir verbinden die Serie der elektrischen Impulse, die vom Finger zum Gehirn gehen, nur mit unserem Finger. Wir denken, dass der Schmerz im Finger ist, aber das stimmt nicht.
Sie operieren ohne Betäubung am Gehirn, warum?
Das Gehirn hat keinen aufgemalten Plan, auf dem – wie auf einem Schnittmuster – dort Scheren eingezeichnet sind, wo man schneiden kann. Wie der Patient reagiert, ist der beste Guide beim Operieren. Man merkt direkt, wenn man im Begriff ist, etwas Wichtiges zu schädigen, und kann dann an der Stelle sofort aufhören.
Dass Sie ohne Betäubung am Gehirn rumschneiden, klingt trotzdem nach Horrorfilm.
Ich habe das Verfahren vor 30 Jahren in Europa eingeführt, jetzt ist es Standard. Der Patient bekommt natürlich ein Beruhigungsmittel, und die Haut am Kopf wird betäubt – aber die meisten kommen dann mit dem Eingriff gut klar. Ich habe Hunderte Male so operiert, und nur zweimal waren Patienten so ängstlich, dass wir abbrechen mussten.
Sie bekennen sich in Ihrem Buch zu Ihren Fehlern. Haben Sie je geweint, weil Sie Menschen mit einer Operation mehr geschadet als genutzt haben?
Als ich noch Assistenzarzt war, operierte ich ein Mädchen im Teenageralter, ein sehr komplizierter Tumor. Sie überlebte, aber sehr geschädigt. Es hat mich fertig gemacht. Wenn man so eine Arbeit macht, muss man eine Balance finden zwischen Liebenswürdigkeit und professionellem Abstand. Ich habe wie wohl jeder Chirurg Phasen tiefster Verzweiflung erlebt.
Warum tun sich die meisten Ärzte schwer, Fehler zuzugeben?
Weil es wehtut – und alle Menschen vermeiden schmerzhafte Wahrheiten.
Was ist der richtige Weg für Ärzte, mit Fehlern umzugehen?
Zuerst sollte man ehrlich zu sich selbst sein. Wenn man sich nicht eingesteht, dass man einen Fehler gemacht hat, kann man nicht daraus lernen. Dann muss man es auf sich nehmen, dem Patienten oder der Familie zu sagen, was passiert ist.
Sie haben sogar Menschen geraten, Sie zu verklagen?
Ja, wenn ich mich wirklich für einen Fehler verantwortlich fühlte. Aber das macht man erst, wenn man große Erfahrung hat. Die meisten Ärzte raten nicht dazu, sie zu verklagen – und die Versicherung war auch nicht begeistert davon. Aber ich bin als Erstes für meinen Patienten verantwortlich und nicht für die Versicherung, nicht für das Gesundheitssystem und nicht für die Regierung.
Bei allen schweren Vorfällen und Entscheidungen in Ihrer Karriere als Neurochirurg – man gewinnt in Ihrem Buch den Eindruck, dass der Operationssaal auch ein angenehmer Arbeitsplatz sein kann. Zum Beispiel hörten Sie viel Musik. Was passt gut zum Öffnen eines Schädels und Rausschneiden eines Tumors?
Eine Zeit lang habe ich immer Musik aufgelegt beim Operieren – von Abba über Bach bis zu afrikanischer Musik. Meine Kollegen fanden meinen Musikgeschmack zum Teil seltsam, hatten sich aber damit arrangiert. Besonders beliebt war die sogenannte Schließmusik, Chuck Berry, B. B. King oder andere schnelle Rock- und Bluesmusik. Wir hörten sie, wenn wir den Kopf eines Patienten zunähten.
Hört sich an, als ob es im Operationssaal zum Teil sehr lustig zugeht.
Oh ja, es gibt eine sehr gute Kameradschaft. Es wird viel gelacht. Ich erinnere mich an eine Operation, noch bevor ich Neurochirurg wurde. Der Patient hatte einen Bruch in der Bauchdecke, den wir schließen wollten. Weil der Mann schon älter war und wir ihn nicht mit einer Vollnarkose belasten wollten, machten der Oberarzt und ich den Eingriff unter örtlicher Betäubung. Als wir also mit vier Händen arbeiteten, tauchte auf einmal eine fünfte Hand in der Wunde auf. Wir sind dermaßen erschrocken! Das war der Patient, der uns mit seiner linken Hand helfen wollte!
Makaber. Als Neurochirurg war dann aber Schluss mit lustig?
Auf keinen Fall! An einen lustigen Fall erinnere ich mich besonders: Ich habe einen Mann mit einem Hydrocephalus, umgangssprachlich Wasserkopf, operiert. Das heißt, in seinem Kopf staute sich aus unbekanntem Grund die Hirnflüssigkeit, eine bedrohliche Situation, der Druck im Schädel steigt. Das Gehirn kann dadurch irreparabel geschädigt werden. Ein Eingriff in einem anderen Krankenhaus hatte keine Besserung gebracht.
Bis jetzt hört sich das wenig lustig an . . .
Ich drang mit dem Endoskop in sein Gehirn ein, um das zu finden, was verhinderte, dass die Spinal-Flüssigkeit im Gehirn des Patienten zirkulieren konnte. Plötzlich stieß ich auf eine Art Membran. Ich zog sie heraus. Weil ich keine Ahnung hatte, um was es sich handelte, gab ich die unbekannte Struktur zur Analyse ins Labor. Es hätte zum Beispiel ein Tumor sein können. Wir warteten im Operationssaal auf das Ergebnis, um dann zu entscheiden, wie wir weiter vorgehen würden. Plötzlich steckte der Pathologe den Kopf durch die Tür und rief aufgeregt: „Es ist nicht menschlich!“
Und was war es?
Man muss dazu sagen, dass der Patient ein weißer, angelsächsischer Engländer war. Später stellte sich heraus, dass er drei Jahre zuvor in Simbabwe seinen Onkel besucht hatte. Dort hatte er sich wohl einen Parasiten eingefangen, der schließlich bis ins Gehirn des jungen Mannes vorgedrungen war. Es war eine totale Überraschung, denn in unseren Breiten gibt es solche parasitischen Würmer nicht. Den hatte ich ihm aus dem Gehirn gezogen. Der Pathologe hatte sich aber angehört, als hätten wir einen Alien in seinem Kopf gefunden. Wir haben sehr gelacht, natürlich auch, weil es eine erfolgreiche Operation war. Der Patient war geheilt, das war sehr schön.
Ist es eigentlich schön, Neurochirurg zu sein?
Ja – gerade weil man Angst hat. Wenn man operiert, ist das, als ob man in einen Dschungel geht oder einen hohen Berg besteigt. Chirurgie kann abhängig machen, weil sie so aufregend ist.
Das klingt eher nach der Suche nach dem Kick als nach Medizin?
(Lacht) Es ist Bergsteigen für Feiglinge, weil man nicht das eigene Leben, sondern das eines anderen riskiert.
Zur Person

Henry Marsh, 65, studierte nach der Schule zunächst Wirtschaft, Politik und Philosophie an der Elitehochschule in Oxford, ein typischer Weg für einen Sohn aus der britischen Oberklasse wie ihn, um eine hohe Position in Politik oder Wirtschaft zu erreichen. Nach seinem Abschluss entschied er sich jedoch, noch ein Medizin-Studium zu machen. Während der Facharztausbildung spezialisierte er sich auf das wohl gefährlichste Gebiet der Medizin, die Neurochirurgie. Er wurde bald Consultant, vergleichbar mit dem deutschen Chefarzt, am St. George’s University Hospital London. Seit den 90er Jahren operiert er ehrenamtlich Schwerstkranke in der Ukraine. Die BBC-Dokumentation über seine Arbeit dort (“The English Surgeon“, übersetzt, „Der englische Chirurg“), wurde 2007 mit dem US-Fernsehpreis Emmy ausgezeichnet.