Auch beim Kompromiss gilt: Zuerst wird Maß genommen Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Man könnte es mit dem Fliegen vergleichen: Ein Anzug nach Maß, das ist wie First Class. Etwas für Betuchte. Der Zwirn von der Stange: gemeinhin Economy Class. Aber es gibt einen Mittelweg: Maßkonfektion, Economy plus gewissermaßen, die dem guten Tuch einen Höhenflug verschafft.

Stuttgart - Um die Mittagszeit, wenn die Jung-Karrieristen aus Banken und Büros zum Lunch in die City strömen, fühlt man sich fast wie nach Mailand versetzt und registriert wohlgefällig: So viel italienischer Chic, so viele stylische Anzüge, sehr selbstverständlich und lässig zur Schau getragen, als wäre der Business-Look die zweite Haut. Wenn das jener Herrenausstatter noch erleben könnte, der den Niedergang seines Geschäfts ahnte, als er in der Oper die ersten Jeans sah! Denn jetzt hat Mann es endlich kapiert: Es ist doch ganz einfach, gut angezogen zu sein.

Die Nachfrage nach Anzügen steigt wieder

Schnieke in Schale. Sagte früher der Berliner. Heute machen wir lieber Bella Figura. „Ja, der Anzug ist zurück“, bestätigt Carina Holzherr den Trend. Hocherfreut aus zweierlei Gründen: Als modebewusster attraktiver Frau war ihr der zum Shabby Chic hochgestapelte Schlamperlook ein Gräuel. Und als Leiterin der Bereiche Marketing und Design beim Maßkonfektionsunternehmen Dolzer registriert sie zufrieden eine steigende Nachfrage. Hier werde, sagt sie, nicht nur modisch neu Maß genommen, sondern vor allem ein Statement abgegeben: „Die Herren wollen damit ausdrücken, ich bin mir das wert, ich halte etwas auf mich, ich will etwas darstellen.“ Als Subtext zur eigentlichen Botschaft, die heißt: „Ich will im Beruf erfolgreich sein und Karriere machen.“ Die passende Kleidung war dafür immer schon eine wichtige Voraussetzung, und die Volksweisheit „Kleider machen Leute!“ galt schon, als man noch nicht von Statement, sondern schlicht von Stil sprach. Gutem Stil, bitte sehr.

Der lässt sich im Anzug von der Stange, im englischen Fachjargon für Herrenausstattung ready made genannt, natürlich auch verwirklichen. Aber meistens muss doch der Schneider kommen: Weil die Hose zu lang ist, der Bund zu weit, das Jackett nicht perfekt sitzt und man eigentlich gern andere Knöpfe hätte. „Das hatte ich satt“, sagt Christian Franz, der gerade in der Stuttgarter Filiale von Dolzer einen klassischen Blazer, blau mit goldenen Knöpfen, für 335 Euro abholt. Der 52-jährige Wirtschaftsberater, groß, schlank und trotzdem nicht wirklich in Normgrößen passend, vertraut sich daher seit mehr als 20 Jahren den Maßkonfektionären an: „Da bekomme ich die Details, die ich will: das zweite Täschchen für Kleingeld, die Doppelschlitze im Jackett und ein besonderes Futter nach Wunsch.“

Verbindung von klassischer Schneiderarbeit und industrieller Fertigung

Was ist der Unterschied zwischen tailor-made, der Maßschneiderei, und made to measure, der Kategorie, die Maßkonfektionäre für sich in Anspruch nehmen? „Es ist die Verbindung von klassischer Schneiderarbeit und industrieller Fertigung“, erklärt Marcel Szkudlarek, der die Stuttgarter Filiale von Maßkonfektion Kuhn führt. Erst mal probiert der Kunde ein sogenanntes Schlupfteil, das in verschiedenen Basisgrößen und Schnitten vorrätig ist. Dann wird der Kunde akribisch an 40 Körperpunkten vermessen. Und muss schließlich den sicher schwierigsten Part des Einkaufs meistern: Die Entscheidung, welche und wie viele Extras er zur Grundausstattung will und welchen Stoff er wählt. Was darf es also sein, um ein ganz individuelles Stück zu besitzen, in dem garantiert nicht morgen der Kollege auftaucht: durchgeknöpfte Ärmelschlitze, Kissing Buttons, Ärmel und Reversknopfloch in anderer Farbe, Handstichkante, Zungeninnentasche, eine Handytasche mit Reißverschluss, ein Revers mit Rosshaareinlage – „fällt schöner“ – oder paspeliert? Vielleicht sogar ein eingesticktes Monogramm? Und aus welchem Stoff? Welches Dessin und welche Qualität?

Die Tuche, vorwiegend aus Italien und England wie die schottischen Tweeds, sind die reine Verführung. Allein der prüfende Griff an ein Stoffmuster von Loro Piano oder Cerruti, bei Dolzer unter 2500 Oberstoffen vorrätig, lässt wahrscheinlich die ursprünglichen Preislimits für die Anschaffung wanken. Denn es ist wie beim Kauf eines Autos: Extras kosten auch extra, und der Preis für ein Basismodell zwischen 300 und 400 Euro kann mühelos in luxuriöse Höhen gesteigert werden. Für einen Tausender, so Szkudlarek, habe man dann aber das beste Tuch mit allen Extras. Immer noch ein Schnäppchen, denn beim Maßschneider zahle man mindestens das Doppelte.

Stuttgart erlebt ein Upgrade in Eleganz

Es sind dennoch überwiegend die arrivierten Herren, die Maßkonfektion bevorzugen. „Das Durchschnittsalter unserer Klientel ist 43“, weiß Carina Holzherr ganz genau. Seit jedoch in Hochzeiten ein Vermögen investiert wird, ist dieser Tag für die jungen Herren oft der erste Anlass, sich hier festlich einkleiden zu lassen.

Seit Frauen zunehmend auf der Karriereleiter nachdrängen, sind auch sie verstärkt ins Visier der Maßkonfektionäre geraten: mit Kostüm, Hosenanzug und Etuikleid für den perfekten Auftritt in Business und Büro. So gut zu kombinieren, dass Frau auf Dienstreisen mit kleinem Gepäck auskommt.

Das Stuttgarter Geschäft, verrät Carina Holzherr, liege unter den bundesweit 18 Dolzer-Filialen im Umsatzranking mit Frankfurt an erster Stelle. Na bitte, haben wir uns also nicht getäuscht: Stuttgart erlebt ein Upgrade in Eleganz.