Andrea Schönig hat dieses Foto von 1955 aus dem Nachlass ihres Vaters Norbert Krettek geschickt Foto: Stuttgart-Album/Krettek

Die Neue Weinsteige ist so neu gar nicht. König Wilhelm hat sie im 19. Jahrhundert bauen lassen. Die schönste Straßenbahnstrecke Europas entstand später darauf. Im Forum des Stuttgart-Albums fragt man sich: „Warum kamen nicht die Autos in den Tunnel?“

Die Neue Weinsteige ist so neu gar nicht. König Wilhelm hat sie im 19. Jahrhundert bauen lassen. Die schönste Straßenbahnstrecke Europas entstand später darauf. Im Forum des Stuttgart-Albums fragt man sich: „Warum kamen nicht die Autos in den Tunnel?“

Stuttgart - Den Vergleich mit San Francisco hört man in unserer Stadt oft. Stuttgart und die kalifornische Metropole haben eine imposante Gemeinsamkeit: steile Aufstiege und traumhafte Aussichten. 282 Meter hoch ist der höchste Hügel der Weltstadt an der amerikanischen Westküste – unser Degerloch liegt 448 Meter über dem Meeresspiegel. Um Weinberge zu sehen, fahren die Besucher von San Francisco ins Nappa Valley – bei uns wachsen die Reben mitten in der Stadt.

Stuttgart besitzt gleich zwei befahrbare Weinsteigen. Der extrem steile Weg der Alten Weinsteige wurde 1350 erstmals erwähnt. Bis zu 16 Pferde brauchte man, um den Berg zu bewältigen. Weil manche Pferdefuhrwerke den Aufstieg nicht schafften, fasste der württembergische König Wilhelm I. 1822 einen Beschluss. Er beauftragte seinen Oberbaurat Eberhard von Etzel, die Residenzstadt an die südlich gelegenen und damals noch selbstständigen Gemeinden über eine breite Panoramastraße anzubinden. Nach jahrelangen Bauarbeiten wurde sie am 23. Oktober 1831 eröffnet. Damals hieß sie noch nach dem königlichen Auftraggeber Wilhelmstraße und kam erst 1946 zum heutigen Namen Neue Weinsteige.

1987 verschwand die Stadtbahn im Tunnel

Als Pionierleistung der Ingenieurkunst rühmte man die Steige, deren Bau mit 76 000 Gulden als sehr teuer galt. Bis 1922 verlangte die Stadt Zoll- und Pflastergeld. Heute denken manche Kommunalpolitiker aus ökologischen Gründen über eine City-Maut nach. Noch hat aber glücklicherweise keiner verlangt, für den einzigartigen Panoramablick auf die Stadt zu kassieren.

„I muss die Stroßabahna kriega“, sang Wolle Kriwanek in den 1980ern, „nur der Fünfer bringt mi hoim.“ Der Fünfer führte von Stammheim in die Stadt, dann hinauf nach Degerloch und endete in Möhringen. Die Ära der traumhaften Aussicht endete am 25. September 1987. Für die Stadt ist dieser Tag ein historisches Datum. Denn vom 26. September 1987 an mussten der Fünfer und auch der Sechser in der Tunnelröhre verschwinden. Die Neue Weinsteige gehörte nur noch den Autos – oder Radfahrern, die das Risiko lieben. Thomas Mack, ein fleißiger Mitarbeiter und Bildgeber des Stuttgart-Albums, hat am letzten Tag der im Freien fahrenden Strambe Fotos gemacht und wundert sich noch immer: „Warum hat man an diesem historischen Tag die Bahnen nicht mit Fähnchen geschmückt?“

Seine Fotos von jenem 25. September 1987 sind auf der Facebook-Seite des Stuttgart-Albums, des Geschichtsprojekts unserer Zeitung, zehntausendfach angeklickt worden. Wehmut erfasste viele Internetbesucher. „Ach, war das schön – jeden Morgen bin ich auf dieser Strecke zur Arbeit in die Stadt gefahren und hab’ das damals noch genossen“, findet Bärbel Böhm. Und in einem anderen Kommentar heißt es: „Die Straßenbahn, die ja längst Stadtbahn heißt, in den Tunnel zu verlegen, war ein Fehler – aus touristischer Sicht. Die kurzen Ausblicke auf die City können für die lange Genussstrecke aus früheren Zeiten nicht entschädigen.“

Leser bedauern den Tunnelblick

Heidi Lenz erliegt nicht den nostalgischen Sehnsüchten und schreibt: „Die kostenlose schöne Aussicht auf die Stadt war toll. Mit der neuen Untergrund-Streckenführung sieht man nur triste Tunnelwände vorbeiflitzen. Aber heute ist man viel schneller in der Stadt, und das ist besser als damals der Dauerstau auf der Neuen Weinsteige.“ Thomas Mayer weist auf die Gefahren von regennassen Schienen für Motorradfahrer hin – es sei zu vielen Unfällen gekommen. Detlef Versümer hat in unserem Diskussionsforum hinterlassen: „Besser wäre es gewesen, wenn sie die Autos in die Röhre gepackt hätten. Autofahrer müssen auf den Verkehr achten und können sich nicht an der Aussicht erfreuen. Für Fahrgäste der Stadtbahn wäre der Panoramablick eine Entschädigung für die viel zu teuren Ticketpreise.“

Den „Tunnelblick“ mancher Politiker bedauert Sven Jü: „Alle denken an die autogerechte Stadt. Man sieht in der Klett-Passage, was daraus wird: Autos oben, Menschen unten.“ Und Michael Horlacher meint: „Ein Autotunnel wäre damals noch protestlos zu realisieren gewesen.“ Bei den Bauarbeiten für die Straßenbahn-Röhre war man übrigens auf Hohlräume gestoßen, in denen alte Schaufeln und alte Karbidlampen standen. Der Stubensandstein war ein begehrtes Scheuermittel, das die angeblich sparsamen Schwaben großzügig einsetzten, um Steinböden in der Kehrwoche zu säubern.

Schicken Sie Fotos an: info@stuttgart-album.de Das Stuttgart-Album gibt’s als Buch im Silberburg-Verlag. Weitere Infos: www.facebook.com/Album.Stuttgart.