Das „Ein Tanz auf dem Vulkan“-Ensemble Foto: Sabine Haymann

Die 1920er Jahre in Stuttgart, das Erstarken von Rechtspopulisten heute: Mit „Ein Tanz auf dem Vulkan“ beweisen die Verantwortlichen im Alten Schauspielhaus, dass auch in einer Unterhaltungsrevue viel Platz für brisante Themen ist.

Stuttgart - Reizüberflutung, wohin man sieht: Bevor sich der Vorhang zu „Ein Tanz auf dem Vulkan“ hebt, schaut das Publikum auf George Grosz’ farbenreiches Wimmelbild „Metropolis“. Vor genau hundert Jahren wurde die zersplitternde Darstellung einer Großstadt gemalt, also noch vor den sogenannten Goldenen Zwanzigern, die Manfred Langner und Horst Maria Merz in ihrer am vergangenen Freitag im Alten Schauspielhaus uraufgeführten Revue heraufbeschwören. Doch anders als im Unterhaltungsgenre üblich, lassen sich Regisseur und Musikalischer Leiter nicht vom Glamour dieses Jahrzehnts blenden, das so gern mit Swing, Ragtime und lockeren Sitten in Verbindung gebracht wird. Bodenhaftung entsteht nicht nur durch die lokalhistorischen Stuttgart-Bezüge, sondern auch durch die bissig und anschaulich inszenierten Lieder von Hanns Eisler, die auf die Abgründe dieses Jahrzehnts verweisen: auf Massenarbeitslosigkeit, Inflation, Kriegsversehrte und das Aufkommen des Nationalsozialismus.

Doch es geht noch schärfer! Mit dem Trick, die Probe einer fiktiven Generalprobe zu zeigen, die ein nationalistisch gesinnter Kulturbeauftragter mit den Attitüden des AfD-Mannes Björn Höcke stört, ist der wechselvolle Reigen zugleich eine beklemmende Zukunftsvision. Denn wie textete schon Willy Prager: „Alles kommt einmal wieder“. Beim Changieren zwischen diesen Zeitläufen markiert George Grosz’ Gemälde gewissermaßen die Gegenwart. Schließlich vergehen bis zu den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts noch ein paar Jahre. Was in ihnen geschieht, ist richtungsweisend. Ans Publikum gewandt, bringen die neun Akteure das kurz vor Schluss auf den Punkt: „Sie haben die Wahl. Kommen Sie gut ins nächste Jahr.“ Bekanntlich wird 2017 über die Zusammensetzung des Bundestages neu entschieden.

Schon beim Ausblick auf die Saison 2016/17 hatte der Schauspielbühnen-Intendant Manfred Langner das Grundgesetz als thematische Bezugsgröße hervorgehoben und angekündigt, die Revue über die 1920er Jahre in Stuttgart als Unterhaltung mit gesellschaftspolitischer Relevanz inszenieren zu wollen. Mit ein paar Anspielungen auf die gegenwärtige Nachrichtenlage ist es dabei nicht getan: Der Mann macht ernst und stellt mit der Musikauswahl von Horst Maria Merz eine Show auf die Beine, die es faustdick hinter den Ohren hat.

Die Darsteller wechseln die Stimmung wie ein Chamäleon die Farbe

Schmissige Lieder wie „Schöner Gigolo“ oder „Was machst du mit dem Knie, lieber Hans“ am Fuß der beleuchteten Showtreppe, per Video eingespielte Nachrichten über das kulturelle und politische Leben in Stuttgart im ersten Viertel des vergangenen Jahrhunderts, kritische Töne wie die „Ballade von der Krüppelgarde“ unter den Treppenstufen, eine zukunftspessimistische Debatte über die Freiheit des Theaters mit dem Höcke-Doppelgänger samt Hitler-Parodie: Dass diese Mixtur aufgeht, liegt zu einem an der stimmgewaltigen und spielfreudigen Truppe der Musiker und Darsteller, allen voran Harald Pilar von Pilchau, Gideon Rapp, Frank Voß und Antje Rietz, die auch mal die Trompete bläst. Wirkungsvoll setzen sie ihre verbalen und mimischen Spitzen, ruhen sich nie darauf aus, finden nahtlose Übergänge und wechseln die Stimmung wie ein Chamäleon die Farbe. Dabei hilft ihnen die rasche, inhaltlich clever verzahnte Szenenfolge. Collagenartig fügen sich die thematischen Schnipsel zum Panorama eines Jahrzehnts, in der Nostalgie nur eine Farbe von vielen ist.

Ein Kleid namens „Versailler Vertrag“ ist auf der Rückseite mit einem Dolch ausgestattet. In der als Araberdorf verunglimpften Weissenhofsiedlung schwingt die aktuelle Debatte über den Islam in Deutschland mit. Nachrichten vom neuen Bahnhof von Paul Bonatz erinnern an die S21-Debatte, ohne dass dieses Thema ausgetreten würde. Und wenn Alina Bier, auch für die Choreografie zuständig, so anrührend traurig „Küss die Faschisten“ singt und der Kellner Theo vom Hotel Marquardt ins Hotel Silber wechselt, zeigt allein ihre Körperhaltung, dass ihre Wege in den Abgrund führen.

Während der knapp dreistündigen Revue bleibt dem Publikum so manches Mal das Lachen im Halse stecken, wird das Mitklatschen bei den mitreißenden Auftritten des teuflisch aufspielenden Frank Voß als nationalistisch gesinnter Kulturwächter im Keim erstickt: Am Ende wird die Truppe dennoch – und vielleicht gerade deswegen – mit anhaltendem Jubel belohnt. Dass Manfred Langner die Schauspielbühnen 2019 verlässt, um sich dem Musiktheater zu widmen, ist jedenfalls keine Verbeugung vor der unreflektierten Leichtigkeit.