Erinnerungsarbeiter: Hintermaier, Burgstaller, Röhrle, Unterweger, Rummel (von links) Foto: Conny Mierbach

Während der Proben hat Jan Neumann das Stück „Die Stadt das Gedächtnis“ entwickelt und ist Autor und Regisseur zugleich. Mit sichtbarer Freude an den Möglichkeiten des Theaters denkt die Inszenierung über Erinnern und Vergessen nach.

Während der Proben hat Jan Neumann das Stück „Die Stadt das Gedächtnis“ entwickelt und ist Autor und Regisseur zugleich. Mit sichtbarer Freude an den Möglichkeiten des Theaters denkt die Inszenierung über Erinnern und Vergessen nach.

Stuttgart - Wer sich mit Vergangenheit beschäftigt und zugleich Stuttgart ergründen will, muss graben. So beginnt Jan Neumanns am Samstag im Nord uraufgeführtes Stück „Die Stadt das Gedächtnis“ mit dem Nesenbach, der unterirdisch verläuft. Er taucht im Monolog einer Stadtführerin auf, an den sich ein wortreicher Reigen von fast 40 Alltagsszenen anschließt, die sich entlang des Bachverlaufs ereignen.

Dem Text nach als Mauerschau-Szenen angelegt, werden die Begebenheiten von Boris Burgstaller, Gabrielle Hintermaier, Sebastian Röhrle, Florian Rummel und Birgit Unterweger in einem slapstickhaften Parcours durch die sich drehende Kulisse nachgestellt. Ein Laufwerk, das den Fortgang der Zeit ebenso anzeigt wie Ortswechsel und das mit einem halb fertigen (oder zerstörten?) Gebäudeaufriss samt Kellergeschoss auf das Drunter und Drüber im Talkessel anspielt.

Gerade diese wie die Einzelteile einer präzise ineinandergreifenden Maschinerie aufgebaute Gruppenaktion lässt erkennen, dass Jan Neumann seine Stücke während der Proben entwickelt und bei „Die Stadt das Gedächtnis“ als Autor und Regisseur zugleich fungiert. Mit sichtbarer Freude an den Möglichkeiten des Theaters bringt die Inszenierung auf den Punkt, was die Sprache mit gereimten Einsprengseln nur umreißt. Zudem verhindert die Konzentration auf die agierenden Menschen, dass das Stück zur Lokalposse gerät.

Bei der Gemeinderatsszene scheint die Gefahr nah, ins Provinzhafte abzustürzen. Zumal eine Schwäbisch-Parodie nur funktioniert, wenn alle Sprecher diesen Dialekt drauf haben. Doch bald geht es nicht mehr um Stadtplanung. Vielmehr rücken die Menschen in den Fokus, die dieser Stadt Leben einhauchen. Es geht um ihre Geschichten, Sorgen und Hoffnungen.

Da gibt es das ältere Ehepaar, das im Bett über das Sterben und die eigene Beerdigung spricht. Da gibt es Claudia, die von Markus auf ihren Alkoholkonsum angesprochen wird und mit ihm darüber in Streit gerät – mit packender Abgründigkeit von Unterweger und Rummel dargeboten und umstellt von stummen Zeugen, die der Szene zusätzliche Brisanz verleihen. Da gibt es den Studenten mit Datenverlust, der sich von einem Underdog mit Programmierfähigkeiten Rettung verspricht. Und da gibt es irgendwo im Bürgerhospital Josefine, die – schon ganz wund gelegen – nicht sterben kann.

Während dieser Kurzporträts wird die Bühne von einer Horde Statisten bevölkert, die zahllose weitere Geschichten in sich tragen. Wortlos ziehen sie vorüber. Ob als herausgehobene Figur oder als Teil der Masse: Jede Person verkörpert auf ihre Weise den Wandel, der nicht zu stoppen ist. Weit mehr als mit ihrer Stadt haben die Menschen mit der eigenen Vergangenheit, Vergesslichkeit und Vergänglichkeit zu kämpfen. Oder ganz zeitgemäß: mit der nicht weniger bedrohlichen Vorstellung, bis in alle Ewigkeit digitale Fingerabdrücke zu hinterlassen.

Man mag Neumann vorwerfen, „Die Stadt das Gedächtnis“ mit Aspekten rund um das Erinnern und Vergehen überfrachtet zu haben. Doch die Ausweitung der Erinnerungszone über die Stadt hinaus zeigt letztendlich, wie universell das Thema ist. Und so darf der riesige Elefant, der am Ende von der Brett für Brett von der Bühnen weggetragenen Kulisse übrig bleibt, eher mit dem Elefantengedächtnis assoziiert werden denn mit dem Wappentier der Wilhelma.

Weitere Vorstellungen am 3. und 20. Oktober, am 1. und 22. November sowie am 6. und 22. Dezember, jeweils um 20 Uhr in der Spielstätte Nord in der Löwentorstraße 68. Karten gibt es unter Telefon 07 11 / 20 20 90.