„Wir müssen reden!“ Kyle Chandler als John Rayburn (rechts) und Owen Teague als Nolan Rayburn in der zweiten Staffel des Seriendramas „Bloodline“ Foto: Saeed Adyani/Netflix

Das Fernsehen liebt Familien. Nicht nur die lustigen Patchwork-Clans, mit denen ständig neue Sitcoms bestückt werden, sondern auch die dysfunktionalen, die vor allem von dunklen Geheimnissen zusammengehalten werden. Das beste Beispiel dafür liefern die Rayburns aus der Netflix-Serie „Bloodline“.

Stuttgart - Der Junge mit dem verwegenen Seitenscheitel und den trotzigen Piercings im Gesicht bemüht sich um einen herablassenden Ton: „Du hast mich gefragt, was ich hier eigentlich will“, sagt er und blickt kurz seinem Onkel in die Augen. „Wahrscheinlich wollte ich dich einfach nur kennenlernen, herausfinden, ob die Rayburns tatsächlich existieren. Oder ob sie nur eine weitere Lüge sind, die mir mein Vater erzählt hat.“

Ja, die Rayburns gibt es wirklich. Zumindest im finsteren Familiendrama „Bloodline“, dessen zweite Staffel an diesem Freitag von Netflix ausgestrahlt wird. Die Rayburns sind eine dieser kaputten Dynastien, die das Fernsehen liebt. Robert und Sally Rayburn betreiben seit 45 Jahren ein Hotel im idyllischen Islamorade auf den Florida Keys und haben vier erwachsene Kinder, die kaum unterschiedlicher sein könnten: John ist der örtliche Sheriff, Meg ist Anwältin, Kevin versucht sich als Bootsverleiher durchzuschlagen. Und dann ist da noch Danny, derjenige, den alle in der Rayburn-Familie für ihr eigenes Unglück verantwortlich machen. Am Ende der ersten Staffel ist er tot. Ermordet von den eigenen Geschwistern. Und der junge Mann mit den Piercings, der nun seinem Onkel John gegenüber sitzt, ist Dannys Sohn Nolan. Er ist aus dem Nichts aufgetaucht, hat große Ähnlichkeit mit seinem Vater und scheint fest entschlossen, dessen Platz in der Familie Rayburn einzunehmen.

Die Familie als Institution de US-Fernsehunterhaltung

„Bloodline“ verwandelt sich in der zweiten Staffel in ein Schuld- und Sühnedrama – verhandelt in Form einer Familienchronik die großen Fragen von Moral, macht die Rayburns zu Stellvertretern einer orientierungslos umherirrenden Gesellschaft. Weil sich anhand von mehr oder weniger komplexen verwandtschaftlichen Abhängigkeitsbeziehungen das Große im Kleinen so sinnfällig zeigen lässt, sind Familien auch im 21. Jahrhundert immer noch eine unkaputtbare Institution der US-Fernsehunterhaltung. Selbst wenn diese in Sitcoms verlacht oder in TV-Seriendramen als dysfunktional oder gar mörderisch entlarvt wird – als gesellschaftlicher Nukleus wird die Familie trotzdem nie infrage gestellt. Die Rayburns aus „Bloodline“ sind da keine Ausnahme.

Die Cartwrights, Waltons, Carringtons, Ewings, Feuersteins, Bundys oder Simpsons haben als Serienfamilien nicht nur Generationen vor die Fernsehgeräte gelockt, sondern auch nachhaltig die Vorstellung davon geprägt, was eine typische US-Familie ausmacht. So unterschiedlich Serien wie „Bonanza“, „Dallas“ oder „Eine schrecklich nette Familie“ sind, so machen sie doch alle auf ihre Art deutlich, dass die Familie eine Schicksalsgemeinschaft ist, aus der es kein Entkommen gibt.

Die heile Welt der Ingalls aus „Unsere kleine Farm“ gibt es nicht mehr

Im Zeitalter der Qualitätsserien bekommt man zwar nur noch selten eine heile Welt wie die der Ingalls aus „Unsere kleine Farm“ vorgeführt, aber die Familie zählt immer noch zum Lieblingstopos von Serien, wenn es um komische Verwicklungen oder tragische Konflikte geht – von „Arrested Development“ bis „Modern Family“, von „Die Sopranos“ bis „Game Of Thrones“.

Die von Todd A. Kessler, Glenn Kessler und Daniel Zelman entwickelte Serie „Bloodline“ hat in der zweiten Staffel nach dem Tod Danny Rayburns ein dramaturgisches Problem zu lösen: war dieser doch der Katalysator für alle Konflikte, die in der ersten Staffel zutage traten. Die Serienmacher versuchen sich nun dadurch herauszuwinden, dass sie Dannys verschollenen Sohn ins Spiel, mit neuen Nebenfiguren mehr Licht in Dannys Vergangenheit bringen, die Rayburns ständig am Rande des Nervenzusammenbruch agieren lassen und die Geschwister durch ihr dunkles Familiengeheimnis noch enger aneinander ketten. Dieses Spiel mit dem schlechten Gewissen gelingt so gut, dass die erste Staffel im Nachhinein fast wie das Vorspiel für das eigentliche paranoide Psychodrama wirkt, das nun zehn Folgen lang erzählt wird.