Zwischen Experimenten und dem Ernstfall: Fußball-Bundestrainer Joachim Löw Foto: dpa

Die EM-Qualifikation hat für Joachim Löw „oberste Priorität“. Zugleich muss der Bundestrainer die Nationalmannschaft fit für den Sturm auf Europas Thron machen. Ein schwieriger Spagat.

Kaiserslautern - Joachim Löw nahm kein Blatt vor den Mund, im Gegenteil: Der Bundestrainer stellte seinen Weltmeistern eine besorgniserregende Diagnose aus und zeichnete schonungslos den Ist-Zustand. „Zurzeit haben wir nicht die einmalige Einheit wie bei der WM und sind von der Leistung her nicht auf diesem Niveau“, sagte Löw am Tag vor dem Test-Länderspiel gegen Australien an diesem Mittwoch (20.30 Uhr/ZDF) in Kaiserslautern. Nicht dass ihn das in tiefe Depressionen stürzen würde, er nannte die Situation sogar „normal“. Doch sie ist nicht so normal, als dass der Architekt des WM-Titelgewinns die Dinge einfach laufen lassen könnte – oder würde. „Wir müssen uns ein Stück weit neu erfinden“, sagte Löw.

2015 ist für ihn ein Jahr der Experimente. Allerdings kommt immer mal der Ernstfall dazwischen. „Wir werden einiges ausprobieren, manches verwerfen – und am Ende des Jahres müssen wir sehen, was funktioniert hat“, sagte er. Wohl wissend, dass sich die deutsche Mannschaft als Dritter ihrer EM-Qualifikationsgruppe keine Patzer mehr erlauben darf. „Die Ergebnisse müssen trotzdem kommen“, sagte er über den Spagat.

Einen Vorgeschmack gibt es diese Woche. Gegen Georgien geht es an diesem Sonntag (18 Uhr/RTL) um Punkte für die EM-Endrunde, da ist ein Sieg Pflicht. Deshalb geht Löw gegen Australien kein Risiko ein, schont manch dauerbelasteten Spieler und probiert personelle und taktische Varianten. Weitere werden im Laufe des Jahres folgen:

Dreier-Abwehrkette: Schon gegen Australien könnte die offensiv orientierte Alternative zum üblichen Vierer-Verbund mal wieder zum Tragen kommen. Löws Vorbilder sind Italien und – mehr noch – Chile. „Italien spielt die Dreierkette starr. In Chile wollen die Trainer, dass die zwei Außenspieler sich in die Offensive einschalten“, sagt Löw, dem Ähnliches vorschwebt.

Deshalb hat er seinen Chefscout Urs Siegenthaler als Beobachter in beide Länder gesandt und den Austausch mit den Trainern angestoßen, die diese Systematik dort bereits praktizieren. Löw stellt sich auf einen Prozess über viele Monate ein. „Systemänderungen bedürfen Zeit, auch im Training, um das Ganze einzustudieren“, weiß auch Manager Oliver Bierhoff, „bei der Nationalmannschaft ist es besonders schwer, die Spieler in kürzester Zeit auf verschiedene Mechanismen einzustellen.“

Talente: An hoffnungsvollem Nachwuchs mangelt es in der Bundesliga nicht. Und Joachim Löw ist ein Trainer, der ihm auch allzu gerne zum Debüt verhilft – aber nicht bis Mitte des Jahres. Im Sommer spielt die deutsche U-21-Auswahl vom 17. bis zum 30. Juni in Tschechien um den EM-Titel, diesem Ziel gilt die ganze Konzentration.

Deshalb werden Kandidaten wie Emre Can (FC Liverpool), Kevin Volland (TSG Hoffenheim) sowie Max Meyer und Leon Goretzka (beide Schalke 04) auch beim Doppel-Spieltag im Juni nicht zum A-Team stoßen. „Mir ist es lieber, sie spielen bei einem internationalen Turnier auf hohem Niveau, als dass sie bei uns vielleicht 90 Minuten auf der Bank sitzen“, sagt Löw und erinnert an die Generation 2009: „Damals haben wir gute Erfahrungen gemacht, als Spieler wie Manuel Neuer, Mats Hummels, Benedikt Höwedes, Sami Khedira und Mesut Özil beim Titelgewinn dabei waren und dadurch einen Schub für die WM 2010 bekommen haben.“

Problemzonen: Im Kader steht in Jonas Hector (1. FC Köln) nur ein echter Außenverteidiger, dazu für die rechte Seite der Hoffenheimer Mittelfeldspieler Sebastian Rudy. Ähnlich bescheiden ist die Auswahl im Sturm. Löw nimmt die Clubs und DFB-Sportdirektor Hansi Flick in die Pflicht: „Sie müssen Lösungen finden, damit im Laufe der Jahre Talente heranwachsen.“

Spielpraxis: Sami Khedira, Mesut Özil, André Schürrle, Marco Reus, Lukas Podolski – sie alle kommen in ihren Clubs zu selten zum Zuge. Darauf hat Löw keinen Einfluss. Er kann nur hoffen, dass sich dies im Laufe des Jahres ändert. Dann kommt auch die Nationalmannschaft wieder besser ins Rollen.

Auch die Partie gegen Australien ist ein Experiment für den Ernstfall. „Wir spielen das ganze Jahr gegen wahnsinnig defensive Mannschaften“, sagt Löw. So sollen die Socceroos als Blaupause herhalten für die Qualifikationsspiele gegen Irland und Schottland im Herbst. Mehr noch: „Gegen sie müssen wir uns das Feuer holen für Georgien.“