Eine israelische Frau schaut auf ein von einer Hamas-Rakete zerstörtes Haus in in Yahud südlich von Tel Aviv Foto: Getty

Die Bilder vom Gaza-Krieg scheinen eine eindeutige Geschichte zu erzählen: Tod und Zerstörung bei den Palästinensern, in Israel herrscht dank Raketenabwehr fast Normalität. Doch wer an der Fassade von Israels Alltag kratzt, entdeckt schnell das Kriegsgrauen.

TEl Aviv - Die Bilder vom Gaza-Krieg scheinen eine eindeutige Geschichte zu erzählen: Tod und Zerstörung bei den Palästinensern, in Israel herrscht dank Raketenabwehr fast Normalität. Rund 170 000 Palästinenser sind im Gazastreifen bereits vor den Kampfhandlungen aus ihren Häusern geflohen, tausende Häuser wurden beschädigt. Doch wer an der Fassade von Israels Alltag kratzt, entdeckt schnell das Kriegsgrauen: Zehntausende sind seit Wochen vor dem Raketenbeschuss der Hamas auf der Flucht, Hunderttausende traumatisiert. Und tief im Kernland trauen sich die Frauen mobilisierter Reservisten nicht mehr heimzukehren – aus Angst davor, dass sie dort eine böse Nachricht erreichen könnte. Ein Bericht von Israels Heimfront.

Sogar im Sommer sieht es hier gar nicht aus wie man sich ein Krisengebiet vorstellt: Zwar blüht in den Feldern zwischen den israelischen Dörfern Sufa und Nir Yitzchak keine Iris oder Chrysantheme mehr, doch hinter grünen Ackern rascheln Zypressen und Eukalyptusbäume auf den sanften Hügeln im Wind. Fast idyllisch, wären da nicht die Straßensperren auf dem Weg hierher, an denen außer den Bewohnern niemand mehr hindurch darf: Das Grenzgebiet rund um Gaza ist militärisches Sperrgebiet, zu groß ist die Gefahr, von Geschossen der Hamas getroffen zu werden oder unverhofft auf ein Terrorkommando der Islamisten zu treffen, die hier Anschläge begehen wollen. Was wohl auch der Grund ist, dass die Bewohner dieses Landstrichs, die als einzige durch die Straßensperren dürfen, die Straße nur in eine Richtung nutzen – weg von hier.

„Rund 70 Prozent der Einwohner haben ihr Heim verlassen, schon vor Wochen“, sagt Ronit Minker, Sprecherin des Landkreises Eschkol, der rund ein Viertel des Beschuss aus Gaza abbekommt – 470 Geschosse seit dem 8. Juli. Hier ist es besonders gefährlich, denn „im Gegensatz zum Rest Israels sind wir so nah an Gaza, dass es für uns weder eine Vorwarnung noch eine Abwehr gibt. Entweder man wird getroffen, oder überlebt“. Das hier bislang hauptsächlich Sachschäden entstanden – 20 Häuser wurden getroffen – sei deshalb pures Glück.

Im Gegensatz zum Gazastreifen gibt es in Israel keine offiziellen Statistiken über Flüchtlinge. Organisierte Massenflucht wie im Landkreis Shaar Hanegev, wo der Landrat Familien mit Kindern gesammelt in andere Gegenden Israels verfrachtete, sind selten. Manche verlassen sich auf unzählige Bürgerinitiativen, die sich über das soziale Netzwerk Facebook organisiert haben, um Menschen aus Südisrael aufzunehmen. Aber die meisten packen spontan ihre Sachen und fahren zu Verwandten oder Freunden. Wie O., die ihren Nachwuchs für eine Woche zu ihrer Schwester in den Norden des Landes schickte. Dabei wohnt sie nur 20 Autominuten von Tel Aviv entfernt, weitab vom Gazastreifen. Doch es fiel ihr immer schwerer, ihre vier Kinder innerhalb von 60 Sekunden bei Luftalarm immer wieder mitten in der Nacht in den Bunker zu hetzen. Vor allem, weil sie allein ist. Ihr Ehemann wurde gleich zu Beginn des Kriegs mobilisiert. Sie erfuhr es am Telefon: „Ich war auf Geschäftsreise in Singapur. Er rief mich an um mir zu sagen, dass er sofort los muss zu seiner Einheit. Und dann heulte mitten im Telefonat die Sirene und er legte auf. Ich dachte, ich sterbe vor Angst“, erzählt die 42 Jahre alte Architektin.

Seither hat sie kaum Kontakt zu ihm: „Er ruft nur an um mir zu sagen, dass er noch lebt, dann muss er auflegen.“ Sie sah ihn nur zwei Mal kurz: Einmal als sie heimkam und er eine Stunde später zurück in den Krieg musste, und noch einmal am Wochenende: „Er war der Schatten seiner selbst. Blass, hager, wollte nicht darüber sprechen, was er dort in Gaza gesehen hat. Aber ich weiß, dass er viele Männer verloren hat.“ O. sorgt sich um ihre Kinder: „Mein 14-Jähriger holt jeden Morgen die Zeitung ins Haus, wo die Bilder der gefallenen Soldaten stehen. Er sucht nach Papas Bild“, sagt sie unter Tränen. O. selbst ringt mit ihren Ängsten, hört rund um die Uhr Nachrichten.

Genau wie Sharon Z.. So erfuhr sie auch vom Einsatz ihres 20 Jahre alten Sohnes: „Er durfte tagelang nicht mit uns telefonieren. Dann las ich kurz vor dem Abendbrot im Internet, dass ein Kamerad aus seiner Einheit gefallen war. Ich verstand: Auch mein Sohn ist drin! Ich habe einfach geschrien vor Angst.“ Seither fällt es ihr schwer, nach Hause zu kommen. „Jedes Mal, wenn ich in unsere Straße einbiege, bekomme ich Herzklopfen. Ich habe Angst, vor unserer Haustür Soldaten zu sehen, die uns eine schreckliche Botschaft übermitteln wollen.“

Beide Frauen kennen die Schreckensbilder aus Gaza. O. hat nicht die Kraft, um über das Leid auf der anderen Seite nachzudenken: „Ich versuche nur, zu überleben.“ Sharon denkt hingegen oft über „die armen Menschen auf der anderen Seite nach“. In ihrer Angst fragt sie sich: „Warum bombardieren wir den Landstrich nicht einfach in Grund und Boden? Dann wäre mein Sohn nicht gezwungen, dort sein Leben zu riskieren. Aber dann sage ich mir: Nein, es gibt dort auch Unschuldige. Letztlich bin ich stolz darauf, dass mein Staat nicht so handelt. Auch wenn wir dafür einen schweren Preis zahlen.“