Szene aus Louis Stiens’ „Qi“ Foto: Stuttgarter Ballett

Aktuelle Choreografen dimmen gerne das Licht herunter. „Nachtstücke“ könnte deshalb fast jeder moderne Tanzabend heißen. Trotzdem gelingt dem Stuttgarter Ballet mit Hilfe von Edward Clug, Louis Stiens und Jirí Kylián ein sehr spezieller Blick auf die Qualitäten des Finsteren.

Stuttgart - Die Nacht ist die Problemzone im 24-Stunden-Betrieb des Lebens. In der Nacht sind zwar alle Katzen grau, aber mindestens doppelt so furchteinflößend wie bei Tageslicht. Wehe dem also, dem der Schlaf abhanden kommt, er wälzt sich in erhöhter Empfindsamkeit zwischen Sehnsüchten, Ängsten und zarten Hoffnungen. Klar, man könnte das Licht anknipsen und die Nacht zum Tag machen; doch wer hält das auf Dauer durch?

Tänzer halten das durch - nicht auf Dauer, aber doch Abend für Abend und eine beeindruckende Weile lang, auch Karriere genannt. Von der besonderen Energie, die diesen Wesen eigen ist, erzählt „Nachtstücke“, der neue Streich des Stuttgarter Balletts, der am Freitag im Schauspielhaus Premiere hatte und der vom ersten bis zum letzten seiner drei Beiträge den uneingeschränkten Zuspruch des Publikums erhielt.

Acht formidable junge Tänzerinnen tanzen Edward Clugs „Ssss“

Am besten erklärt sich dieser Abend, wenn man ihn von seinem Ende her betrachtet. Nach der Wiederaufnahme von Edward Clugs 2012 für Stuttgart entstandenem, inzwischen auch bei anderen Kompanien überaus beliebtem Chopin-Reigen „Ssss“ und Louis Stiens’ neuem „Qi“ gehörte die Bühne acht formidablen jungen Tänzerinnen. Diese Desmoiselles de Stuttgart, die meisten einfache Gruppentänzerinnen und jede mit einer eigenen, frechen Frisur, sind Jirí Kyliáns „Falling Angels“. Stürzende Engel nannte er diese Damenriege, weil sie sich der tänzerischen Perfektion, die Steve Reichs Schlagzeug-Tour-de-Force „Drumming“ einfordert, immer wieder durch kleine Tricks entziehen: Da knickt eine ein, dort hebt eine den Finger, hier zieht eine am schwarzen Trikot, eine nach der anderen stimmt ein - und alle machen aus der Ablenkung, trittsicher begleitet von vier Percussionisten um Jürgen Spitschka, einen neuen Konsens.

Mehr als ein Vierteljahrhundert hat das 1989 für das Nederlands Dans Theater choreografierte Stück auf dem Buckel - und wirkt im Rahmen der „Nachtstücke“ doch hellwach. Mit höchst präzisen, schnellen Gesten und einem farblich wie dramaturgisch auf Reduktion setzenden Konzept zeigen die „Falling Angels“, wie sehr die aktuelle Choreografengeneration beeinflusst ist von Jirí Kylián, diesem Schrittmacher der Moderne. Und wie unerreicht er auch an diesem Abend bleibt, nicht nur, weil er die Kunst des Humors beherrscht, wenn Tänzerinnen sich im stummen Schrei wie Comicfiguren gebärden, wenn sie sich wie Dominosteinchen mit unhörbarem Kichern anrempeln.

Louis Stiens spoürt in „Qi“ der Energie des Tanzes nach

Auch Louis Stiens setzt auf schwarze Kostüme sowie die Haut seiner acht Tänzer und begnügt sich in „Qi“ damit, der Energie des Tanzes nachzuspüren. Farbe bringt allein die in immer neuen Nuancen schillernde Bühnenrückwand ins Spiel. Wer die Karriere des jungen Choreografen verfolgt, der bereits als Cranko-Schüler seine Kommilitonen bewegte und Noverre-Abende bestückte, darf sich ehrlich freuen: Sein großer Mitteilungsdrang und der Hang zum Pathos sind der Konzentration auf die pure Kraft des Tanzes gewichen, der in „Qi“ in Person des Energiebündels Hyo-Jung Kang die lockere Abfolge von Soli, Duetten und Gruppenszenen eröffnet. Im Dialog mit der Solistin waren Stiens bereits bei seinem Choreografie-Marathon beim Blick hinter die Kulissen vor einem Jahr intensive Tanzmomente geglückt.

Gerne hätte man der Koreanerin, die aus großer Ruhe unbändige Kraft generiert, auch in „Qi“ länger zugesehen, doch Stiens stellt ihr fünf Jungs, angeordnet wie die Augen eines Würfels, gegenüber. Und fast scheint es so, als hätte Stiens für „Qi“ gewürfelt, so flott und unvermittelt wechseln sich Gruppenbilder ab. Auch die Bewegungsmotive nehmen die Schnörkel in Johann Heinrich Schmelzers Musik stellenweise zu ernst, dann fliegen Hände wie Schmetterlinge, streichen über Körper, lassen sich wie Vögel auf Schultern nieder, dann schwingen Hüften und Arme locker in den Raum, dann flackert Robert Robinson in einem finalen Solo wie die von Evian Christ besungene Kerze im Wind, statt die Power der treibenden Beats zu bündeln. Immer wieder gelingen Stiens zwischen all der Zerstückelung aber auch Momente beeindruckender Schärfe, etwa wenn er eine Herrengruppe im roten Dämmerlicht auf wenige Gesten einschwört.

Die Ballette im Schauspielhaus bringen genügend Licht ins Dunkel

Von der Energie, die einen durch die Nacht bringt, ist in „Qi“ die Rede. Und Nacht darf man hier durchaus gleichsetzen mit den Krisen, die das Leben so bereithält. Davon, dass die Nacht Geheimnisse hat, die sie nicht preisgibt, erzählt Edward Clug in „Ssss“. 2013 um ein Solo für Marijn Rademaker erweitert, ist diese geradezu klassische Begegnung dreier Paare wohl dasjenige Ballett, das dem Titel „Nachtstücke“ am nächsten kommt. Tiefblaue Kostüme, eine Tanzfläche glänzend wie ein nachtschwarzer See, die Stimmung eines schläfrigen Salons, den die meisten Gäste schon verlassen haben, wie die Menge an leeren Klavierschemeln beweist, und in dem alles möglich ist, während Alina Godunov am Flügel fünf Nocturnes anstimmt: Die Tänzer, allen voran Pablo von Sternenfels und Hyo-Jung Kang, müssen sich immer wieder gegenseitig den Kopf zurechtrücken und sich mit kantigen Gesten, die Damen auf Spitze, gegen die Dunkelheit behaupten. Clug verflicht manchmal fast akrobatisch Bewegungen wie Chopin Melodien und erzählt in diesen Miniaturen von einer Liebe, die, kaum erglüht, schon wieder erkaltet - aber immer geheimnisvoll finster funkelt wie Mondgestein.

„Nachtstücke“? Jeder Ballettbesucher, der sich ärgert, dass Choreografen häufig schönste Bewegungsfindungen im Finsteren verstecken, hat da seine eigene Bestenliste im Kopf. Mit der Auswahl im Schauspielhaus kann man auch deshalb einverstanden sein, weil sie genügend und schönes Licht ins Dunkel bringt.

Weitere Termine: 28. März, 1., 2. und 25. April sowie am 3. Mai