Ursula Esbach hat dem Schneider Michael Stocker die Etuis überlassen. Foto: Maira Schmidt

In der Schneiderwerkstatt von Michael Stocker an der Liebenzeller Straße in Bad Cannstatt hängen historische Nadeletuis. Ursula Esbach erzählt, was es damit auf sich hat.

Bad Cannstatt - Es sind kleine Blickfänger. Sie stammen aus Frankreich, Italien oder den USA. Sie sind bunt und liebevoll verziert. Mal zeigen sie einen italienischen Jüngling, mal die Freiheitsstatue oder ein Kriegsschiff der US-Navy. Seit dem vergangenen Herbst hängen die historischen Nadeletuis in der Schneiderwerkstatt von Michael Stocker an der Liebenzeller Straße. „Ich finde die total klasse“, schwärmt der Maßschneidermeister. Vorsichtig öffnet der 47-Jährige eines der empfindlichen Papiertäschchen. Er zeigt auf einen goldenen Faden und erklärt: „Dieses Nadelset wurde speziell für die Navy hergestellt.“ Wenn sich ein Abzeichen von der Uniform löste, konnte es mit dem goldenen Faden schnell wieder festgenäht werden.

Sie stammen aus Care-Paketen

Stocker weiß viel über die Nadeletuis, ihre ganz persönlichen Geschichten kennt allerdings nur Ursula Esbach. Die 74-Jährige Cannstatterin hat dem Schneidermeister die kleinen Papiertäschchen überlassen. Ihre Familie lebt in dritter Generation in einem Haus an der Wiesbadener Straße. Ursula Esbachs Großvater Karl Schmidt hat das Haus 1905 gebaut, genau wie viele andere Gebäude im Kurpark-Viertel. Unterstützt wurde er dabei von Arbeitern aus Italien. Auf diese Weise, vermutet Esbach, ist das italienische Etui in den Besitz ihrer Familie gelangt.

Eine ganz besondere Bedeutung haben für die 74-Jährige aber die Etuis aus den USA. Sie stammen aus Care-Paketen, die ein amerikanisches Paar, Dorothee und Ralph Morse, in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg geschickt hat. Ursula Esbach war damals noch ein junges Mädchen, höchstens fünf oder sechs Jahre alt. Der Vater war noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, sie lebte mit ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrem zwei Jahre älteren Bruder in dem Haus an der Wiesbadener Straße. Doch auch wenn die Cannstatterin damals noch sehr jung war, erinnert sie sich, wie sehr sie sich über den Inhalt der Hilfspakete gefreut hat. Noch heute bewahrt sie eines der Malbücher, die sie damals geschenkt bekommen hat, in ihrem Wohnzimmerschrank auf. „To Uschi from Tante Dot“ steht auf dem Buchdeckel geschrieben.

Über Jahre hinweg gab es einen intensiven Briefwechsel

Zwischen dem Paar aus dem amerikanischen Prospectville und der Familie aus Bad Cannstatt ist eine richtige Beziehung entstanden. Über Jahre hinweg gab es einen intensiven Briefwechsel. Jetzt liegen diese handgeschriebenen Erinnerungsstücke auf dem Wohnzimmertisch von Ursula Esbach. Ein dicker Stapel Papier, den die 74-Jährige nun Stück für Stück durchlesen will. Sie hat sich auch vorgenommen, wieder Kontakt zu der Familie von Dorothee und Ralph Morse in den USA aufzunehmen.

Für die Nadeletuis, die das Paar der Cannstatter Familie geschenkt hat, hat Ursula Esbach jedenfalls einen Ehrenplatz gefunden. Auf weißem Stoff befestigt, kommen sie im Eingangsbereich der Schneiderei gut zur Geltung. Dass Michael Stocker die Etuis zu schätzen weiß, ist nicht zu übersehen. In der Werkstatt des 47-Jährigen finden sich noch viele andere historische Schneiderutensilien. Der perfekte Ort also für die bunten Papiertäschchen, schließlich handelt es sich um ein ganz persönliches Stück Nachkriegsgeschichte.