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Der Südwesten ist nicht nur ein High-Tech-Land, sondern auch eine Fundgrube für Sagen, Geschichten und Legenden. Wir bieten Kostproben aus dem sagenhaften Baden-Württemberg.

Wenn die Bremslichter der Autos scheinbar ohne Grund aufleuchten und sich die Köpfe der Insassen wie auf Knopfdruck in den Himmel recken, dann ist er erreicht, der legendäre Hirschsprung im Höllental. Auf einem nackten Fels zwischen Falkensteig und Posthalde, links neben dem Höllenbach, steht hoch oben über der Bundesstraße 31 von Freiburg nach Donaueschingen das Denkmal jenes kapitalen Hirsches, der vor langer Zeit mit einem sagenhaften Satz das Höllental überquert und sich so vor Jägern in Sicherheit gebracht haben soll.

Der Sprung gibt immer noch Rätsel auf. "Was sich da oben auf dem Fels wirklich zugetragen hat", gibt Breitnaus Hauptamtsleiter Andreas Müller zu bedenken, "ist nirgends so genau überliefert." Die Geschichte des kapitalen Hirsches geht aufs frühe Mittelalter zurück. Demnach soll einer der Raubritter auf Burg Falkensteig, die mit blutiger Härte den Handelsweg durchs Höllental überwachte, bei einer Jagd zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert einen stattlichen Hirsch erspäht, ihn dann stundenlang durch den Wald mit Pferd, Hundemeute gehetzt und ihn schließlich auf dem schroffen Felsen oberhalb des Handelsweges durchs gefürchtete Höllental in die Enge getrieben haben. Als das gejagte Wild keinen Ausweg mehr wusste, soll es zu einem verzweifelten Sprung angesetzt und die tiefe Kluft zum rettenden Felsen übersprungen haben.

Ob der Hirschsprung tatsächlich stattgefunden hat oder nur Jägerlatein ist, lässt sich heute nicht mehr klären. In Fachkreisen gilt es als sehr unwahrscheinlich, dass sich ein kapitaler und damit rund vier Zentner schwerer Hirsch in dicht bewaldetes und felsiges Gelände treiben lässt. "Der Hirsch ist eher ein Steppentier und ist nicht gern in Wald und schon gar nicht auf Fels unterwegs", berichtet Jäger Christian Kopp von der Forstdirektion Freiburg. Es sei letztlich jedoch nicht auszuschließen, dass der Hirsch von Ritter und Hundemeute auf die Felskante gehetzt und in seiner größten Not über die Schlucht gesprungen sei. Einen Satz von 20 oder 30 Metern aber, wie es in Nacherzählungen heißt, traut der Förster selbst einem kräftigen Hirsch nicht zu. Rotwild könne wegen seines großen Gewichts in der Ebene vier bis fünf Meter, bergauf zwei bis drei Meter und bergab maximal zehn Meter springen. Heute ist das Höllental am Hirschsprung gut 50 Meter breit; Felsen wurden weggesprengt, um Platz für Autos und die Höllentalbahn zu schaffen. Vor 700 Jahren führte jedoch nur ein schmaler Handelsweg entlang des Höllenbachs durch die Schlucht, die damals allenfalls neun Meter breit gewesen sein kann. "Einen solchen Satz traue ich einem gehetzten Hirsch durchaus zu", meint Jäger Kopp. "Wahrscheinlicher ist aber, dass ein bedrängter Hirsch sein Geweih senkt und seine Jäger angreift."

Als Erinnerung an den Hirschsprung stellte die Gemeinde Falkensteig im Jahre 1856 einen hölzernen Hirsch auf den Felsen. Vor 100 Jahren wurde das Holzdenkmal durch einen 350 Kilogramm schweren Hirsch mit einem 2,50 Meter hohen Geweih ersetzt. Das Abbild des majestätischen Hirschs auf dem nackten Fels weckt die Neugier der Touristen. Aber Geschäfte lassen sich mit ihm schon seit Jahren nicht mehr machen. Der 49 Jahre alte Kiosk am Parkplatz unterm Hirschsprung musste vor sechs Jahren aufgegeben werden. Immer weniger Verkehrsteilnehmer stoppten neben dem Höllenbach und verlangten nach Ansteckern und Ansichtskarten oder Handstöcken und Stocknägeln mit dem Hirsch. Sogar die alten Postkarten mit der Geschichte über die sagenhafte Hirschjagd sind aus den Souvenirläden des Schwarzwaldes verschwunden.

Karl-Heinz Zurbonsen, Jahrgang 1947, aufgewachsen im Münsterland, ist seit 1976 im Schwarzwald zu Hause. Von Freiburg aus berichtet der freie Jorunalist seit vielen Jahren regelmäßig für unserer Zeitung.