Jean-Claude Junckers Visionen für Europas Zukunft sind nicht ohne politischen Sprengstoff. Seine Ideen werden umgehend zum Thema im deutschen Wahlkampf. Foto: epa

Die Reformpläne des EU-Kommissionspräsidenten werden in Deutschland im Lichte des Wahlkampfs betrachtet.

Berlin - EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat für seine Straßburger Grundsatzrede einen aus deutscher Sicht durchaus heiklen Termin gewählt. Derzeit wird jedes politische Ereignis hierzulande durch den Filter der kommenden Bundestagswahl betrachtet. Europa spielt im Wahlkampf zwar eine erstaunlich untergeordnete Rolle, aber die Parteien wissen auch, dass in dem Thema Aufregerpotenzial steckt. Die deutschen Reaktionen auf die Rede folgen ziemlich exakt der Logik dieser Rücksichtnahme.

Für den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz ist ein zusammenwachsendes Europa zweifellos ein Herzensthema. Es ist also nicht überraschend, dass es Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) ist, der rückhaltloseste Zustimmung formuliert. Geradezu euphorisch lobte er „das Feuerwerk an Ideen“. Juncker weise „den richtigen Weg für die Einheit unseres Kontinents“. Und natürlich fand er auch den Einkehrschwung ins heimische Wahlkampfgetümmel: Europa habe „die akuten Krisen bewältigt“, in Frankreich stehe „ein engagierter Reformer“ an der Spitze: „Auch wir brauchen eine neue Bundesregierung, die mit Mut und Zuversicht Europa weiterentwickeln möchte.“

Merkels Sprecher antwortet eher schmallippig

Natürlich ist das eine Spitze gegen Angela Merkel. Tatsächlich bringen die Juncker-Vorschläge die Bundeskanzlerin in eine unbequeme Lage. Einerseits sieht sich auch die CDU als Europapartei. Andererseits schlägt Juncker auch einiges vor, das geeignet ist, bei konservativen Wählern Gänsehaut auszulösen: Rumänien und Bulgarien in den Schengen-Raum, ein EU-Superminister für Wirtschaft und Finanzen, eine gemeinsame Arbeitsmarktbehörde. Ralph Brinkhaus, CDU-Fraktionsvize im Bundestag, reagiert entsprechend kühl. „Es ist gut, Visionen zu haben“, sagt er: „Aber statt beschleunigte Vertiefungen der EU zu fordern, sollten wir erst einmal die existierenden Regeln und Instrumente nutzen und verbessern.“ Auch die Kanzlerin hielt sich auffallend zurück. Man begrüße, dass sich Juncker „mit wichtigen Zukunftsfragen befasst hat“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Die schmallippige Reaktion hat zweifellos damit zu tun, dass die Kanzlerin die Thesen ungern im Wahlkampf breitgetreten sähe.

AfD und Linke lassen kein gutes Haar an Juncker

Warum das so ist, zeigt die umgehende Reaktion der AfD. Besonders die Vision einer EU-weiten Eurozone wird dort gerne aufgegriffen. Spitzenkandidatin Alice Weidel sieht darin einen Beleg für einen „völligen Realitätsverlust der Brüsseler Funktionäre“. Für Deutschland bedeute die Gemeinschaftswährung „Wohlstandsvernichtung“. Bei der Linken hört sich das ähnlich an. Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht sieht den EU-Kommissionspräsidenten „von allen guten Geistern verlassen“: „Bereits jetzt zerstört die Währungsunion in vielen Ländern Industrie und Arbeitsplätze, während sie in Deutschland eine Bedrohung für Sparkonten und Lebensversicherungen ist.“

Die Grünen dagegen äußern sich ähnlich wohlwollend gegenüber den Juncker-Ideen wie die SPD. Europa brauche „solche mutigen Visionen“, sagte der grüne Parteichef Cem Özdemir. Der Euro in allen Mitgliedstaaten sei das richtige Ziel, auch wenn es heute noch „in weiter Ferne“ liege. Auch Özdemir schafft den Schlenker zum Wahlkampf. Die Grünen wollten „ein Europa, das auch in schwierigen Zeiten zusammensteht, nicht ein Europa der Kleinstaaterei und des Misstrauens“, wie es der FDP vorschwebe. Das mag polemisch sein. Tatsächlich aber reagiert die FDP ausgesprochen reserviert. „Vor der Ausweitung der Eurozone muss die Stabilisierung stehen“, sagte FDP-Chef Christian Lindner.