Die Stimme für die Mülltonne? Immer mehr Menschen gehen in Deutschland nicht mehr zur Wahl. Foto: dpa

Nur 49,2 Prozent gingen am Sonntag in Sachsen zur dortigen Landtagswahl. Wissenschaftler warnen vor Schäden für die Demokratie.

Nur 49,2 Prozent gingen am Sonntag in Sachsen zur dortigen Landtagswahl. Wissenschaftler warnen vor Schäden für die Demokratie.

Stuttgart/Berlin - Angela Merkel entschied die Bundestagswahl 2013 quasi in letzter Minute für sich. Lange lieferte sich die Kanzlerin ein Kopf-an-Kopf-rennen mit einer Partei, in der keine Luftballons verteilt und Wahlkampfreden gehalten wurden: den Nichtwählern. 34,1 Prozent der Wähler votierten für die CDU-Vorsitzende; 28,5 Prozent wählten nicht.

Und bestätigten so einen Trend, der in Deutschland seit den 1980er Jahren nahezu unvermindert anhält: Zwischen einem Drittel und der Hälfte der Wahlberechtigten beteiligen sich nicht mehr an den Urnengängen. Von den etwa 61,8 Millionen stimmberechtigten Deutschen verweigerten 17,7 Millionen bei der vergangenen Bundestagswahl die Stimmabgabe.

Den Verfassungsrechtler Hans Herbert von Armin verwundert das nicht: „Die großen programmatischen Gegensätze sind den Parteien abhanden gekommen“, sagt der Professor, der an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer lehrt, unserer Zeitung. Er hat festgestellt, wie Kanzlerin Merkel ihre CDU vor allem an die SPD und Grünen herangeführt hat. „Nehmen Sie nur die Debatte um die Nutzung der Atomkraft und den Atomausstieg: Da haben die Christdemokraten ein typisch grünes Politikfeld besetzt – und damit ein Wahlkampfpfund sondergleichen für sich entdeckt.“

Eine Entwicklung, die mittelfristig der Demokratie schadet, ist der Kölner Politikwissenschaftler Armin Schäfer überzeugt: Weil es keine großen dogmatischen unterschiede mehr gibt, beteiligten sich Weniger an den Wahlen. „Sinkt die Wahlbeteiligung unter fünfzig Prozent, repräsentiert selbst ein einstimmiger Parlamentsbeschluss nicht mehr die Mehrheit der Wahlberechtigten.“

Das zeigt ein Blick auf die Wahlergebnisse vergangener Wahlen. So sprachen lediglich 29,4 Prozent der 61,8 Millionen Wahlberechtigten im September 2013 der Union und damit Kanzlerin Angela Merkel das Vertrauen aus. Gerade einmal 0,9 Prozent mehr, als Wähler die Urnen mieden. In Baden-Württemberg beteiligten sich 2011 lediglich 66,3 Prozent der 7,6 Millionen Berechtigten an der Wahl des neuen Landtages. Für die Grünen stimmten somit nur 15,8 Prozent der zugelassenen Wähler statt der 24,2 Prozent, die das Wahlergebnis ausweist. Düsterer sieht es aktuell in Sachsen aus: Ministerpräsident Stanislaw Tillich darf sich nur der Zustimmung von 19,1 Prozent der 3,4 Millionen stimmberechtigten Sachsen sicher sein. Der Landeswahlleiter sieht Tillichs CDU im vorläufigen Endergebnis mit 39,4 Prozent vorne.

Ein Schönrechnen von Wahlergebnis, dass Wahlforscher Schäfer seit mehr als zwei Jahrzehnten in Deutschland feststellt. In einer Studie für das Max-Planck-Institut entkräftet der Politologe Argumente, nach denen die deutschen Wähler die Wahlurnen meiden und sich auf andere Art wie mit Unterschriftensammlungen oder Demonstrationen in den politischen Alltag einbringen : „Es sind dieselben Menschen, die protestieren, Unterschriften sammeln oder wählen“, beweist Schäfer. So hätten sich nahezu dieselben Menschen „gegen Stuttgart 21 engagiert, die ansonsten auch wählen“.

Auch das Argument, die Deutschen seien eigentlich mit ihrer Demokratie zufrieden und blieben deshalb den Wahlen fern, verweist Schäfer ins Märchenland: Politisch zufriedene Stimmberechtigte beteiligten sich zuverlässiger an den Abstimmungen als unzufriedene, zeigt er in seiner Studie.

Die beweist, dass Wahlbeteiligung und Bildung eng miteinander verwoben sind. „2013 beteiligten sich im ‚armen’ Kölner Stadtteil Chorweiler 44 Prozent der Wahlberechtigten an der Bundestagswahl. Im reichen Stadtteil Hahnwald gingen fast 90 Prozent der Wähler an die Urnen.“ Niedrige Wahlbeteiligung, so konnte er nachweisen, bedeute, dass vorwiegend sozial Bessergestellte wählen. Mit verheerenden Folgen für die Demokratie: „Lernen Politiker, dass bestimmte Gruppen ohnehin nicht wählen, richten sie ihr Augenmerk auf wahlrelevante Milieus“, folgert der Wissenschaftler.

Dem scheint der frühere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück zuzustimmen. Der stellte sich vor der Bundestagswahl im vergangenen Jahr in der ARD den Fragen von Wählern . Von denen wollte einer wissen, welches Signal für Politiker „von einer Wahlbeteiligung unter 50 Prozent ausgeht“. Der Genosse schwieg sekundenlang, dachte nach. Dann antwortete er entlarvend ehrlich: „Wenn weniger als die Hälfte der deutschen Wahlberechtigten wählen gingen, dann müssten wir Politiker anfangen, eine andere Politik zu machen.“