Für Jean-Claude Juncker ist der Brexit eine persönliche Niederlage. Foto: AP

Niemand steht so sehr für das Europa, das die Briten abgestraft haben, wie der Präsident der EU-Kommission. Er wirkt angeschlagen, dennoch gilt ein Rücktritt als unwahrscheinlich.

Brüssel - Der Mann wirkte angeschlagen. Als Jean-Claude Juncker am Freitag im Pressesaal der EU-Kommission seine erste Stellungnahme zum Brexit abgibt, ist er angezählt. Die Gesichtszüge des Kommissionspräsidenten starr, der 61-Jährige, der sonst immer gern eine flapsige Bemerkung macht, hält sich eng an den Text, den er abliest. Er sagt, dass er den Ausgang des Referendums persönlich bedauert. Was man so sagt. Dann erlaubt er noch zwei Fragen. Eine BBC-Journalistin kommt zum Zug. Ob das nun der Anfang vom Ende der EU sei? „No!“ Das ist das einzige Wort, das Juncker als Antwort gibt. Dann verlässt er, der sonst so eloquent ist, der mit seinen spontanen, gewitzten Antworten gewinnend ist, den Saal.

Die Szene zeigt, wie schwer der Luxemburger getroffen ist. Wer will es ihm verdenken? Viele, die tief unten im Kommissionsgebäude versammelt sind – Journalisten, EU-Beamte, Politiker – fühlen sich nach dieser Nacht angegriffen. Etliche ziehen eine Parallele zu den Gefühlen, als vor drei Monaten Brüssel von den IS-Anschlägen getroffen wurde.

Wie soll es da Juncker gehen? Mehr als drei Jahrzehnte mischt er mit in der Europapolitik. Mehr als 18 Jahre davon als Luxemburger Regierungschef, acht Jahre bis 2013 als Chef der Eurogruppe, seit 2014 als Präsident der EU-Kommission, der Behörde mit 33 000 Mitarbeitern.

Briten abgestraft

Kaum jemand steht so für das Europa, das die Briten abgestraft haben, wie Juncker. Dass es Rücktrittsforderungen gibt, geschenkt. Sie kommen von politischen Leichtgewichten oder von Menschen, die der EU ohnehin nicht wohlgesinnt sind. Doch die Attacken gegen Juncker in einigen Medien haben zugenommen. Von angeblichen Erwägungen eines Rücktritts ist die Rede. Er selbst hatte es zwar vor dem schwarzen Freitag ausgeschlossen, doch in Brüssel fragen sich manche: Wirft Juncker hin? Als sicher gilt, dass, sollte er damit spielen, andere versuchen werden, es ihm auszureden: die Regierungschefs, Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) und Ratspräsident Donald Tusk. Eine weitere Destabilisierung wollen alle verhindern. Der deutsche Kommissar Günther Oettinger (CDU) nimmt Juncker in Schutz. Am schlechten Erscheinungsbild der EU seien in erster Linie nicht Kommission und Parlament schuld, sondern die „nationalen Egoismen“ der Mitgliedstaaten.

Da ist etwas dran. In der Griechenlandkrise und der Flüchtlingskrise lag es nicht an der Kommission, sondern an der Zerstrittenheit der Staats- und Regierungschefs, dass Lösungen erst so spät gefunden wurden. Tatsache ist jedoch auch, Juncker hat sein Amt als Chef der Kommissare mit hohem Anspruch verbunden. Er trat Ende 2014 seinen Job im 13. Stock des Gebäudes mit der Ansage an, eine „politische“ Kommission zu leiten. Es sei die „Kommission der letzten Chance“ hieß es auch. Freilich, Juncker, trat nicht mehr auf als Chefstratege Europas, der einer weitereren Vertiefung und Integration das Wort redete. Er machte sich nicht für eine Zentralisierung von Aufgaben auf europäischer Ebene stark. Er wusste, wie wenig Zustimmung die Idee einer immer engeren Union („ever closer union“) in der Bevölkerung derzeit findet. Und Juncker handelte entsprechend. Er gab an die Kommissare die Losung aus, dass sie sich in kleinen Fragen zurückhalten und dafür in den großen Fragen Größe und Ehrgeiz zeigen sollten. In seinem engeren Umfeld achtet man etwa genau darauf, wenn in einem Mitgliedstaat ein Gesetzgebungsvorstoß der Kommission auch nur in den Geruch von überbordender Bürokratie gerät. Der Anspruch, ein „politischer“ Kommissionspräsident zu sein, passt aber auch zu gewissen Freiheiten, die sich Juncker nimmt: So interpretiert er den Euro-Stabilitätspakt lässig, indem er Haushaltssünder Frankreich chronische Verstöße durchgehen lässt.

Positiver Schwung in Debatte bringen

Eigentlich müsste nun jemand mit Elan wieder positiven Schwung in die Europa-Debatte bringen. In Brüssel wird bezweifelt, ob Juncker dazu die Kraft hat. Ein Schlaglicht darauf, auf welche Politiker man in der Krise in Berlin setzt, wirft die Einladungsliste von Angela Merkel für das heutige Treffen in der deutschen Hauptstadt: Die Regierungschefs Italiens und Frankreichs sind geladen, die Präsidenten von EU-Parlament und Kommission werden aber nicht erwartet.