Ganz so gelangweilt dürfte Xavier Naidoo nicht auf die Absage des NDR reagiert haben. (Archivfoto) Foto: dpa

Sauer aufgestoßen war der Alleingang des NDR in Sachen Nominierung Xavier Naidoos vielen, dann kam der Rückzieher - am Ende eines ohnehin schon desaströsen ESC-Jahres für Deutschland. Doch wer soll nun für Deutschland nach Stockholm fahren?

Hamburg - Blamable Bankrotterklärung oder notwendige Notbremse? Auf jeden Fall null Punkte für den NDR: Erst bestimmt der in der ARD für den Eurovision Song Contest (ESC) zuständige Sender den Soulsänger Xavier Naidoo als denjenigen, der 2016 für Deutschland im Finale in Stockholm antreten soll - ohne die Fans beim gewohnten Vorentscheid darüber mitentscheiden zu lassen. Und zwei Tage später sprechen die Verantwortlichen in einer Mitteilung dann nur noch von einem „Vorschlag“ und ziehen diesen wieder zurück. Die Wucht der Reaktionen habe überrascht, erläutert der Sender. Naidoo fährt nicht nach Schweden - obwohl der umstrittene 44-Jährige aus Mannheim selbst sagt, dass er dort trotz aller Kritik gesungen hätte.

Peinliches ESC-Jahr

Das Hin und Her passt zum aus deutscher Sicht peinlichen ESC-Jahr: Beim Vorentscheid für den diesjährigen ESC verkündet Gewinner Andreas Kümmert im März, dass er lieber doch nicht im Finale in Wien auftreten will. Die Zweitplatzierte Ann Sophie soll fahren. Zwar fragt sie damals in der Live-Sendung noch unsicher in die Runde, ob das Publikum sie überhaupt wolle, doch sie packt schließlich ihre Koffer - und kommt mit null Punkten und einem letzten Platz zurück. Nach der Absage des NDR für Naidoo zeigt Ann Sophie nun Humor: „Dann fahr ich halt wieder“, schreibt sie auf Facebook und Twitter.

„Dass Xavier Naidoo polarisiert, wussten wir“, sagte ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber, beim NDR Leiter des Programmbereichs Fiktion und Unterhaltung, schon am Tag der Bekanntgabe. Zwei Tage später wiederholt er die Formulierung, aber fügte hinzu: „Die Wucht der Reaktionen hat uns überrascht.“

2006 noch für seine WM-Hymne „Dieser Weg“ gefeiert, handelte sich Naidoo 2012 mit einem Liedtext den Vorwurf ein, schwulenfeindliche Ressentiments zu bedienen. Spätestens seit einem Auftritt vor einer rechtspopulistischen Gruppe namens „Reichsbürger“ beim Tag der deutschen Einheit 2014 gilt er vielen als umstritten. Seine Nominierung führte daher prompt zu heftiger Kritik.

Kritik aus der ARD-Chefetage

Öffentliche Kritik kam jetzt auch aus der ARD-Chefetage: Programmdirektor Volker Herres warf dem NDR eine vorschnelle Nominierung Naidoos vor. Er hätte ARD-interne Diskussionen darüber begrüßt, „bevor mit der Nominierung Fakten geschaffen wurden“, sagte Herres in der „Welt am Sonntag“. „So ist das alles sehr unglücklich gelaufen.“ Die Nominierungsentscheidung liege beim NDR, der den ESC allein verantworte und in das ARD-Gemeinschaftsprogramm einbringe, erklärte Herres.

Der Vorentscheid hat Tradition in Deutschland - in welcher Form er über die Bühne geht, variierte in der Vergangenheit ebenso wie das Interesse der Fans an der Sangeskunst oder am Spektakel.

Als weltweit größte Live-Musikshow gilt der ESC und ist für Schlagzeilen immer wieder gut, für hohe Einschaltquoten nicht unbedingt. Beim letzten Platz von Ann Sophie in Wien waren in Deutschland 8,1 Millionen Zuschauer dabei. Als Lena Meyer-Landrut für Deutschland - nach vielen Jahren des vergeblichen Wartens seit dem bis dahin einzigen Grand-Prix-Sieg 1982 mit Nicole - 2010 endlich mit „Satellite“ die ESC-Krone holte, waren es knapp 14,7 Millionen Zuschauer.

Naidoo: ARD kam auf mich zu

Viel besser lief es auch nicht für das Abschneiden der Kandidaten seit Lena: Sie selbst trat im Jahr nach ihrem Sieg gleich noch einmal an und wurde Zehnte. Cascada schaffte es 2013 nur auf Rang 21, Elaiza 2014 auf Platz 18 - und dieses Jahr der letzte Platz für Ann Sophie. Nur Roman Lob landete nach Lena 2012 als Achter noch einmal in den Top Ten. Bei ihm hatte Stefan Raab - spätestens mit seinem Schützling Lena als ESC-Retter gefeiert - noch mitgemischt.

„Was läuft schief beim deutschen Vorentscheid?“, fragten viele nach der Niederlage von Wien. Und nicht wenige riefen wieder einmal nach Raab. Doch der 49-Jährige, der mehrere Male an den deutschen Beiträgen beteiligt war und mit „Wadde hadde dudde da?“ selbst im ESC-Finale 2000 Fünfter wurde, hatte sich da schon aus dem Grand-Prix-Geschehen zurückgezogen. Raab will demnächst seine TV-Karriere beenden. Und wer singt nun für Deutschland beim ESC?

 
Zum Thema ESC wollen wir auch noch ein paar Worte loswerden :-) Xavier Naidoo ist ein sensationell guter Musiker und...Posted by PUR on  Freitag, 20. November 2015

Naidoo erklärte, die ARD sei vor einigen Monaten auf ihn zugekommen und habe ihn gebeten, für Deutschland beim ESC anzutreten. „Ich habe nach reichlicher Überlegung schließlich zugesagt, weil dieser Wettbewerb ein ganz besonderes Ereignis für mich gewesen wäre.“ Reiflich überlegen dürften sich das wohl die meisten seiner ebenso erfolgreichen Kollegen in Deutschland. Erst mussten renommierte Musiker (etwa Unheilig) bei den vergangenen beiden Vorentscheiden zuschauen, wie am Ende Newcomer, die sich zuvor nur über ein Clubkonzert für den Vorentscheid qualifiziert hatten, zum Finale fahren durften. Nun die heftige Diskussion um Naidoo.

Medien: Rückzug war richtig

Dass der NDR den Sänger aktiv ausgesucht hat und damit als „sozusagen von höchster Stelle gewollten Repräsentanten entsenden wollte, war eine beachtliche Fehlleistung“, schrieb taz.de. „Naidoo wieder auszuladen, ist eine Bankrotterklärung auf allen Ebenen.“ Von einem „Kasperletheater in drei Akten“ sprach „Spiegel Online“ und titelte „Dieser Holzweg“. „Der NDR hat die Notbremse gezogen - und das ist gut so“, hieß es auf stern.de. „Denn es ist nicht davon auszugehen, dass die Kritik an Naidoo abgeebbt wäre. Im Gegenteil.“

„Für den ESC ist der Rückzug Xavier Naidoos ein krasser Rückschritt“, schrieb ESC-Experte Jan Feddersen auf eurovision.de. „Die allermeisten Pop-Musiker aus Soul, HipHop, Funk, Rock oder Elektro haben sich mit diesem Mannheimer solidarisiert, haben gesagt, Naidoo sei weder Rassist noch homophob oder rechtsradikal. Ihnen glaubte man nicht. Sie werden sich alle vorsehen, ob sie sich selbst für den ESC bereit stellen sollten. Die meisten werden sagen: Besser nicht.“

„So schnell wie möglich werden wir entscheiden, wie der deutsche Beitrag für den ESC in Stockholm gefunden wird“, kündigt Schreiber an. Zumindest der Termin steht: Am 14. Mai 2016 steigt in Stockholm das Finale des 61. Eurovision Song Contest.