Die wachsende Zahl von jungen Flüchtlingen bringt das Jugendamt an seine Belastungsgrenze. Nun appellieren Mitarbeiter der Behörde an Muslime, mehr Jugendliche in ihrer Familie aufzunehmen.

Stuttgart - Sechs Jugendliche aus Syrien, Afghanistan, Pakistan und dem Irak stehen aufgereiht vor den Mitgliedern des Internationalen Ausschusses im Rathaus: Jeder tritt einzeln vor das Plenum und erzählt in wenigen Worten von Krieg, Flucht und Neuanfang. Das Jugendamt hat die 16- bis 17-Jährigen an diesem Abend eingeladen, um den Stadträten einen Eindruck zu vermitteln, welche Geschichten hinter den sogenannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen stehen. UMF werden sie kurz genannt im Behördendeutsch.

Sie erzählen von ihren Ausbildungen, Deutschkursen und Hoffnungen in der neuen Heimat. Zum Teil noch wie Kinder; einem schmeckt das Essen nicht. Ein anderer will Arzt werden. Doch bis dahin ist es ein ganz weiter Weg. Bevor die Jugendlichen eine Ausbildung aufnehmen, versucht das Jugendamt für sie eine geeignete Unterkunft zu finden – und gerät dabei zunehmend unter Druck. Kritische Töne an der gängigen Praxis kommen mittlerweile sogar aus dem Jugendamt selbst. Bislang nimmt die Jugendhilfe junge Flüchtlinge, die ohne Eltern nach Stuttgart reisen, in den sogenannten Inobhutnahmen auf und verteilt sie von dort in kleine Wohngemeinschaften, in denen sie mit anderen – teils schwierig erziehbaren – Jugendlichen zusammenleben.

„Wir versuchen derzeit Antworten zu finden, die eigentlich gar nicht zu den Fragen passen, die sich stellen“, sagt Ömer Aykut, Leiter des städtischen Beratungszentrums Jugend und Familie Süd. Wenn die Jugendhilfe zum Beispiel vorsehe, jeden Abend gemeinsam zu Abend zu essen, Putzpläne einzuhalten und auf bestimmte Ausgehzeiten zu achten, dann passe das nicht zusammen mit dem Leben, das die Jugendlichen zuvor geführt hätten, sagt Aykut. Zudem seien die Kapazitäten, Jugendliche und Kinder unterzubringen, längst am Limit.

Aykut will daher die Bemühungen verstärken, künftig mehr Pflegefamilien für die jungen Flüchtlinge zu finden. Genauer: mehr muslimische Pflegefamilien. „Wir müssen in Zukunft auch speziell solche Familien finden, die die Kultur der Flüchtlinge selbst kennen“, sagt er. Aykut sieht vor allem die Muslime in der Verantwortung und appelliert an ihre bürgerschaftliche Solidarität: „Ich vermisse die Haltung zu sagen: Wir sind in Deutschland angekommen und helfen in der jetzigen Situation als Brückenbauer.“

Dass sich die Situation nach wie vor verschärft, zeigt die steigende Zahl der jungen Flüchtlinge. Im Jahr 2014 zog es insgesamt 250 Jugendliche in die Landeshauptstadt. Der weit überwiegende Anteil waren Jungen, nur 18 Mädchen wurden gezählt. Im Jahr 2012 kamen nur 90 minderjährige Flüchtlinge nach Stuttgart. 2008 waren es insgesamt sogar nur 24 allein eingereiste Kinder und Jugendliche.

„Die Flüchtlinge werden unserer Beobachtung nach immer jünger“, sagt Lucas-Johannes Herzog, der Leiter des Bereichs Erziehungshilfen beim Jugendamt. Demnach seien es in der Mehrheit vor einigen Jahren 16-Jährige gewesen, die nach Stuttgart fliehen. Inzwischen, sagt Herzog, befänden sich unter den aufgegriffenen Jugendlichen auch immer mehr 14-Jährige. Zu den Herkunftsländern zählen vor allem Afghanistan und Pakistan, gefolgt von anderen Krisenländern wie zum Beispiel dem Irak, Syrien und Palästina.

Die jungen Flüchtlinge kommen bisher zunächst in der Inobhutnahmestelle in der Kernerstraße unter. Dort stehen zurzeit 18 Plätze zur Verfügung. Eine zweite zentrale Aufnahmestelle entsteht im Zentrum von Vaihingen an der Ecke Möhringer Landstraße/Scharrstraße. Insgesamt 28 junge Flüchtlinge sollen dort unterkommen. Nach einigen Wochen verteilt das Jugendamt die Flüchtlinge auf kleinere Wohngemeinschaften, die sich über die ganze Stadt verteilen.

Doch es mangelt an Platz. Seit dem vergangenen Jahr sucht die Stadt daher vermehrt nach Gastfamilien, heißt es beim zuständigen Pflegekinderdienst. Die Eltern müssen bestimmte Kriterien erfüllen: Dazu zählen zum Beispiel eine stabile finanzielle Situation, psychische Belastbarkeit sowie die Bereitschaft, sich pädagogisch weiterzubilden. Zudem bereitet ein Kurs die Pflegeeltern auf ihre künftige Aufgabe vor. So hat der Dienst im Jahr 2013 rund 280 Familien gefunden, die Jugendliche vom Jugendamt aufgenommen haben.

„Dass muslimische Familien junge Flüchtlinge aufnehmen, ist noch eine Nische“, sagt die Leiterin des Pflegekinderdienstes, Helga Heugel. In ganz Stuttgart hätten sich bisher nur zwei muslimische Familien gefunden, die geflohene Jugendliche aufnehmen wollen. Der Bevölkerungsanteil der Muslime liegt bei etwa zehn Prozent.

Ömer Aykut kritisiert, dass viele Muslime zwar durchaus die Bereitschaft besäßen, junge Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. „Aber es hapert momentan häufig noch an der Umsetzung. Eine bessere Kooperation mit den Behörden ist längst fällig.“ Bei jungen Flüchtlingen, sagt Ömer Aykut, sei das nun konkret möglich. Es müsse nur noch umgesetzt werden.